: Papa, was ist ein Spießer?
Die Kinder der Hippie-Ära suchen den gesellschaftlichen Aufstieg, die Mittelschichten fürchten sich vor dem sozialen Abstieg. Neue amerikanische Familienromane erzählen davon, wie sich die USA in eine Klassengesellschaft zurückverwandelt haben
VON SUSANNE MESSMER
Erster Impuls: Endlich kommt er, der ganz andere amerikanische Familienroman. Schön, dass es nun nicht mehr wie in der Flut der guten und klugen Büchern seit Jonathan Franzens „Korrekturen“ nur um bürgerliche Familien geht, die verzweifelt versuchen, den Status quo zu wahren. Sondern um Milieus, die lustvoll auf ihn pfeifen: Ganze drei von den fünf Romanen, die allein in dieser Büchersaison ins Deutsche übertragen wurden, führen fort, was David Sedaris, David Foster Wallace und Douglas Coupland zaghaft begonnen haben: Sie beschreiben das Kaputte als produktive Kraft. Sie erzählen von Kindheiten zwischen Tür und Angel, von Eltern zwischen Autonomie und Alkoholismus.
Man schlägt sie also auf, die autobiografischen Romane von Jeanette Walls, Nick Flynn und Augusten Burroughs und ergötzt sich zunächst an den Erzählungen vom wilden Lotterleben. Man freut sich, dass hier von Eltern die Rede ist, die ihre Kinder machen lassen, und von Kindern, die tun, was sie wollen. Irgendwann aber kippen diese Freizügigkeiten meist in Vernachlässigung. Die vermeintlichen Königskinder werden zu Opfern einer Generation von Identitätsfindern und Bewusstseinserweiterern, sie müssen kämpfen lernen. Folgerichtig beschreiben all diese Autoren am Ende brav, wie sie sich aus dem Sumpf zogen. Und sei es um dem Preis, dass die, von denen ihre Bücher handeln, zurückbleiben.
Der beste, weil experimentellste neue Hippiefamilienroman ist „Bull Shit Nights“ von Nick Flynn (siehe taz vom 17. 3.). Der erzählt die Geschichte seines Vaters, eines großspurigen Bohemiens und Bummelanten, der in den Sechzigerjahren vorgab, Romancier zu sein, aber zuerst von selbst gebasteltem Schmuck lebte und dann von Scheckbetrügereien. „Er hatte das, was man in der Beatnik-Zeit als Ehrgeiz betrachtet“, schreibt Nick Flynn.
Die Struktur dieser „Geschichte mit meinem Vater“ besteht aus einem Wirrwarr von Tagebuchskizzen, Mutmaßungen und Briefen und ähnelt daher der Konfusion, mit der sich Erinnerungen wirklich abspulen. Dabei vertraut die Erzählung auch auf die Präsenz des Beschriebenen: das Obdachlosenheim, in dem der Erzähler kurz nach dem Selbstmord der Mutter begann zu arbeiten, drei Jahre bevor er seinen Vater kennen lernte, drei Jahre bevor dieser obdachlos wurde. Doch irgendwann wird die Erzählung abstrakter. Flynn beschreibt den Umzug nach New York, und wie der Autor beginnt, Lyrik zu unterrichten. Beim Plan, die Geschichte seines Vater aufzuschreiben, klingt mit: Er, der es geschafft hat, stiehlt ihm, der es nicht schaffen wird, den großen Roman. Das macht „Bull Shit Nights“ statt zu einem Dokument des Verrats zu einem Buch, das solchen Verrat thematisiert.
Jeanette Walls, die heute als Gesellschaftskolumnistin arbeitet, geht mit der Geschichte ihrer Kindheit konventioneller um. Sie hat sie in einen Roman geklemmt und „Schloss aus Glas“ genannt. Auch bei ihr sind vor allem die Erinnerungen an die frühen Jahre mitreißend – in diesem Fall die an ihre ersten Jahre unterwegs, in Trailerparks, unterm freien Wüstenhimmel und in diversen Bruchbuden. Zentrale Figur ist der charismatische Vater Rex. Der vertut sein Leben damit, vom Goldfund und vom Glashaus für die Familie zu träumen, kidnappt seine Kindern aber auch aus dem Krankenhaus, wenn es ihnen dort zu langweilig wird, und jagt mit ihnen „dämliche Dämonen“, wenn sie nachts nicht schlafen können.
Später, als es immer weiter bergab geht, kommt heraus: Die Eltern handeln auch danach, dass härter macht, was einen nicht umbringt. Sie ersäufen ihre Haustiere, wenn sie ihnen zu viel werden und schubsen ihre Kinder ins Wasser, bis sie schwimmen können. Die Mutter lässt ihre Kinder schier verhungern und setzt das Wenige, das sie hat, in Schokoladenriegel um, die sie dann heimlich isst. Der Vater versinkt im Alkohol und stiehlt seinen Kindern das Taschengeld. Als er einen Saufkumpanen gegen ein paar Dollar seine Lieblingstochter begrapschen lässt, berichtet Jeanette Walls davon, wie sie mit diesem Leben brach und beschloss, die Eltern allein zu lassen. Erst der Exhibitionismus, dann die Katharsis: Sie geht zu ihrer großen Schwester nach New York und fängt ein bürgerliches Leben an. Jeanette Walls berichtet von ihrer Scham aus der Sicht derer, die sich frei geschrieben haben. Was sie nur knapp davor rettet, moralisch zu werden, ist die Reaktion der Eltern. Als sie obdachlos werden, weigern sie sich, Hilfe anzunehmen. Einmal, als sie sie in ihrer Luxuswohnung besucht, sagt die Mutter zu ihrer Tochter: „Du hast dich verkauft. Wo sind die Werte geblieben, mit denen ich dich erzogen habe?“
Es ist schon komisch, wie das vorangestellten Motto von „Schloss aus Glas“ – „Jeder, der interessant ist, hat eine Vergangenheit“ – an einen der zentralsten Sätze in Augusten Burroughs zweitem Buch „Trocken!“ anschließt. „Mein Leben war geprägt von unbeschreiblicher Verwahrlosung“, schreibt er. „Als ich dieser Hölle schließlich entkam, stellte ich mich bei diversen Werbeagenturen als jugendlicher, leicht exzentrischer Autodidakt voller Leidenschaft vor.“ Es ist, als würde beschworen, was längst im Niedergang begriffen ist: Die schöne Mär vom insolventen Industriellen, der Bankmanager werden kann.
„Trocken!“ schließt an Augusten Burroughs ersten Kassenschlager „Krass!“ an, der gerade in Hollywood verfilmt wird und in dem es um eine kaputte Kindheit mit einem gefühlskalten, alkoholkranken Vater und einer dichtenden, Kette rauchenden Mutter ging. Nun hat sich der Fokus aufs ramponierte Singleleben in New York verschoben. Der Ich-Erzähler, wieder eins zu eins Augusten Burroughs selbst, ist erfolgreicher Werber geworden, hat allerdings ein drastisches Alkoholproblem. Natürlich geht er in die Entzugsklinik, natürlich wird er rückfällig, natürlich wird er durch den Tod seines Freundes geläutert und schließlich doch noch trocken. Manchmal ist dieser Roman hinreißend tragikomisch, manchmal nervig schwatzhaft, vor allem aber zeigt er: Auch Augusten Burroughs ist ein Besitzstandwahrer, der sich jetzt, buchstäblich in trockenen Tüchern, durch Bekenntnisliteratur interessant macht.
Man hätte es ja gleich wissen können: Amerikas Mittelstandsgesellschaft hat sich längst in eine Klassengesellschaft zurückverwandelt. Und je undurchlässiger diese Gesellschaft wird, je schwieriger der soziale Aufstieg, desto mehr fixiert sie sich auf ihn. Echte Hippieromane, Emanzipationsgeschichten wie die eines Jack Kerouac, J. D. Salinger oder Norman Mailer, sie scheinen fette Zeiten vorauszusetzen, in denen Freiheit und Mobilität winken, in denen aber auch Rückkehr möglich ist.
Die Ich-Erzähler der Hippiefamilienromane von Nick Flynn, Jeannette Walls und Augusten Burroughs dagegen wollen an einen Ort, an dem die Figuren der bürgerlichen Familienromane zu zerbrechen drohen: Sie erzählen vom Wunsch nach sozialem Aufstieg. Von Hippiekindern, die in die Bürgerlichkeit drängen. Vom Unwillen, dem ach so wilden, freien Leben die Stange zu halten. Die bürgerlichen Familienromane dagegen – in dieser Saison „Crossing California“ von Adam Langer und „Abschied von Chautauqua“ von Stewart O’Nan – sie berichten von Abstiegsängsten. Sie sind darum lebendiger.
Adams Langers erster „Crossing California“ erzählt die Geschichte dreier Familien im Zeitraum zwischen dem 4. November 1979 und dem 20. Januar 1981, die Zeit der Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran, als Amerikas Selbstbewusstsein zu bröckeln begann und Reagan Carter ablöste. Die Rovners, Wasserstroms und Wills wohnen nur wenige Häuserblocks voneinander entfernt, ihre Kinder sind befreundet. Sie bewegen sich in engen gesellschaftlichen Grenzen.
Die Psychologin Ellen Rovner hat ihren Mann, den Radiologen Michael, nur geheiratet, weil sie schwanger war. Alle Probleme in dieser gutbürgerlichen Familie sind sublim: Ellen täuscht ihrem Mann seit Jahren beim monatlichen Geschlechtsverkehr vor, einen Orgasmus zu haben, und Michael schafft es nicht, seine eigene Putzfrau zu verführen. Etwas direkter geht es da schon bei den Wasserstroms zu: Vater Charlie, der Kellner, liegt seit dem Tod seiner Frau abends nur noch auf dem Sofa herum, seine Töchter genießen derweil das Leben.
Schließlich sind da noch Deidre und Muley Wills, die sympathischsten Figuren: Sie, die Tochter eines schwarzen Jazzmusikers, hat nach der Geburt ihres Sohnes Muley kein Oberwasser mehr gewonnen. Und Muley setzt seit Jahren alles drauf und dran, ihr das Geld für die Fortsetzung des abgebrochenen Studiums zu beschaffen. Auch, wenn Adam Langers Figuren manchmal zu sehr wie Repräsentanten von Milieus und daher etwas papieren wirken: Am Ende freut man sich doch, wie sie alle noch einmal ein kleines Stück weiterkommen. Ellen und Michael trennen sich, Charlie heiratet eine Journalistin und beginnt, selbst zu schreiben, und Deidre nimmt ihr Studium wieder auf. Wer weiß, wann sie alle wieder solche Sprünge machen werden.
Stewart O’Nans Familienroman „Abschied von Chautauqua“ (siehe taz vom 30. 4.) liest sich wie eine Fortsetzung von „Crossing California“. Spielt man einmal durch, wie alt die Figuren bei Langer heute wären: Seine Eltern wären bei O’Nan die Großeltern, seine Kinder die Eltern. Sie bestätigen die Annahme: Der letzte Sprung, den Amerikas Mittelschicht schaffte, liegt zwanzig Jahre zurück. Emily ruht sich despotisch auf den Früchten aus, die sie mit ihrem verstorbenen Mann in den Siebzigern säte. Sie reagiert wie ein weltfremdes Mädchen, als sie bei letzten gemeinsamen Ferien im Sommerhaus erfahren muss: Ken, ihr Sohn, hat auf den falschen Beruf gesetzt, und Tochter Margaret zerbricht an ihrer Alkoholsucht.
Stewart O’Nan hat mit seinem zwölften Buch in zwölf Jahren wider Erwarten noch einmal die Kurve gekriegt. „Abschied von Chautauqua“ zelebriert die betonierten Machtverhältnisse zwischen den Generationen mit einer beeindruckend zähen Langsamkeit. Emily hat entschieden, das geliebte Sommerhaus zu verkaufen, also bleibt es dabei. Es liegt an ihr, die Kinder vorm finanziellen Ruin zu retten: Eine wahrhaft existenzielle Situation, die diesen Roman bei aller Gemächlichkeit aufregender macht als alle Hippiefamilienromane, die bisher erschienen sind.
Nick Flynn: „Bull Shit Nights“. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Mare, Hamburg 2005, 15,90 €; Jeannette Walls: „Schloss aus Glas“. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Hoffmann und Campe 2005, 19,95 €; Augusten Burroughs: „Trocken!“ Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg. Rowohlt, Reinbek 2005, 34,80 €; August Langer: „Crossing California“. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger und Grete Osterwald. Rowohlt 2005, 16,50 €; Stewart O’Nan: „Abschied von Chautauqua“. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Rowohlt 2005, 19,50 €