: Das äthiopische neue Jerusalem
Äthiopien lockt Besucher mit historischen Städten – wie etwa Lalibela mit seinen mittelalterlichen Felskirchen. Doch kaum hat der Tourismus davon Notiz genommen, wird er auch schon wieder durch die Gefahr eines neuen Krieges bedroht
VON NICOLA LIEBERT
Die Führer und Hoteliers in den historischen Städten und den Nationalparks Äthiopiens treibt die Angst um. Die Angst davor, dass der Krieg mit Eritrea wieder aufflammt und die zarten Knospen des Tourismus verdorren lässt. Truppen würden an der Grenze massiert, hieß es in den Medien, Busse seien beschlagnahmt und Scouts in den Nationalparks zu militärischen Übungen einberufen worden. In dem Land, dessen Erwähnung eher Bilder von Kriegen und Hungersnöten denn von touristischen Sehenswürdigkeiten aufkommen lässt, dürfte ein neuer Krieg für den Tourismus und all die, die davon zu leben versuchen, ein schwerer Rückschlag sein.
Dabei gibt es durchaus gute Gründe, Äthiopien zu besuchen. Einer davon ist Lalibela, eine kleine Stadt im Hochland nördlich von Addis Abeba, die vor langer Zeit einmal als das neue Jerusalem gefeiert wurde. In der Mitte zwischen zwei Hügeln stehen 13 monolithische Felsenkirchen aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die direkt aus dem Fels gehauen wurden. Von oben hat man angefangen, tiefe Gräben in den roten Tuffstein zu hauen, und von diesen ausgehend hat man dann die bis zu zwölf Meter hohen Kirchen samt Säulen, Fenstern, Bögen und Kapellen gemeißelt.
Die meisten Besucher kommen per Flugzeug nach Lalibela. Man kann es ihnen kaum verdenken. Auf dem Landweg reist es sich nicht gut in Äthiopien. Zwar sind die wenigen Straßen inzwischen einigermaßen gut ausgebaut. Aber der Verkehr auf diesen Straßen findet nach wie vor fast ausschließlich zu Fuß oder per Esel statt. Nur wenige alte, klapprige Busse mit superengen Sitzbänken sind unterwegs, noch weniger Lkws und von den seltenen Geländewagen irgendwelcher UN-Organisationen oder staatlichen Stellen abgesehen so gut wie keine Pkws. Es sind so wenige Kraftfahrzeuge, dass in den kleineren Dörfern am Straßenrand die Kinder oft angerannt kommen, wenn sie das seltene Dröhnen eines Motors hören.
Der äthiopische König Lalibela, heißt es, wurde vor über 800 Jahren persönlich von Gott aufgefordert, ein neues Zentrum für die christlichen Pilger zu errichten, nachdem das Heilige Land an die Muslime gefallen war. Dazu gab Gott dem König der Legende zufolge des Nachts im Schlaf eine Führung durch Jerusalem. In den äthiopischen Bergen, auf rund 2.700 Metern Höhe, baute Lalibela dann das neue Jerusalem, und heute bieten eher weltliche Fremdenführer Touren zu Kirchen, die Golgatha oder Sinai heißen, zu einer Kapelle namens Grab Jesu oder zum ausgetrockneten Fluss in der Ortsmitte, der natürlich Jordan heißt.
Dass diese Kirchen in relativ kurzer Zeit von Menschenhand gemeißelt werden konnten, schien unglaublich. Engel müssen geholfen haben, die vor allem nachts die schwere Arbeit erledigten. Als dann alles fertig war, erschien der heilige Georg, beleidigt, dass ihm keine Kirche geweiht worden war. Zerknirscht fing König Lalibela erneut an zu bauen. Das Ergebnis ist die schönste der Felskirchen, ein tief nach unten gegrabener Bau, von dem man zunächst, von oben kommend, nur den Grundriss eines ebenmäßigen Kreuzes erkennt. Noch heute strömen Pilger aus ganz Äthiopien nach Lalibela, darunter alte Menschen, die an der heiligen Stätte sterben wollen. In kleinen Höhlen um die Kirchen herum kauern Eremiten, vertieft ins Studium der heiligen Schrift.
In ihrem Inneren sind die mit Woll- und Strohteppichen ausgelegten Kirchen höhlenartig dunkel, einzelne Neonröhren beleuchten die steinernen Reliefs, die aufgestellten Heiligenbilder und teilweise auch noch die alten Wandmalereien im byzantinischen Stil. Weihrauch und die klagenden Gesänge der Männerchöre wehen über allem.
Viele der Häuser, selbst in der Stadt Lalibela, sind immer noch Tukuls, die klassischen strohgedeckten Rundhütten, die auch überall in den Bergen wie überdimensionierte Pilze auf dem braun-steinigen Boden stehen. Wanderungen ins Umland führen zu entfernter gelegenen Felskirchen – vorbei an Dörfern, wo Männer mit Ochsengespannen die Felder pflügen und Frauen Wasser in großen Tonamphoren holen, die sie sich mit Seilen auf den Rücken binden. Die Äcker kleben an viel zu steilen Hängen und sehen aus, als könne man hier nur Steine ernten.
Bergwanderungen hier oder auch in den noch höheren Simien-Bergen nördlich von Gondar sind auch für Untrainierte kein Problem. Man schlendert auf Hochplateaus mit zumeist nur sanften Steigungen, während sich unter einem die atemberaubende, zerklüftete Vulkanlandschaft öffnet. Schulkinder aus den Bergdörfern marschieren viele Kilometer weit nach Lalibela, und jedes grüßt begeistert die Fremden auf dem schmalen Weg. Viele laufen ein gutes Stück hinterher, meistens um ihr bisschen Englisch auszuprobieren, manchmal aber auch nur, um zu betteln. „You! You!“, schallt es von überall her, überall in Äthiopien. Oder „Mister! Mister!“
Der 21-jährige Samson, der gerade in die achte Klasse geht, hat den Schulbesuch zusammen mit einer jüngeren Schwester gegen die Eltern durchgesetzt. Abends bei einem Fläschchen rauchig schmeckenden Honigwein in einer weihrauchverqualmten Kaschemme erzählt er, wie die Pläne der Eltern, die Schwester mit 14 zu verheiraten, zur familiären Revolte geführt haben. „Vater, du bist dumm“, habe er gerufen. „Wir wollen nicht so leben wie du.“ So leben – das heißt: als stets vom Hunger bedrohter Bauer auf einer viel zu kleinen Scholle. Denn für die 68 Millionen Einwohner, die zu 85 Prozent von der Landwirtschaft leben, reicht der magere Ackerboden längst nicht mehr aus. Als schließlich die Schwester mit Selbstmord drohte und Samson erklärte, er würde ihr in den Tod folgen, habe der Vater sie beide ziehen lassen.