Klassisch, bis es wehtut

ABGRÜNDE J. D. Salingers „Neun Erzählungen“ in neuer Übersetzung

VON RENÉ HAMANN

Vielleicht war alles nur ein Missverständnis. Und der große J. D. Salinger, der erst vor zwei Jahren gestorben ist, dafür aber geschlagene 45 Jahre lang kein gedrucktes Wort hinterließ, hat nicht aus Coolheit, aus Trotz oder eben der schlichten Tatsache wegen, aufgrund des dauerhaften Kassenschlagers „Der Fänger im Roggen“ für immer ausgesorgt zu haben, oder aus der einfachen Erkenntnis heraus, in seinem schmalen, aber sehr dichten Werk alles gesagt zu haben, seit 1965 nichts mehr veröffentlicht, sondern weil er ein kriegsversehrter Mann war, der sein alleiniges Seelenheil in einem vedantischen Hinduismus gefunden hatte und daraufhin die innere Leere dem veräußerten Wort den Vorzug gab.

Einen Hinweis in diese Richtung gibt die letzte dieser „Neun Erzählungen“, die jetzt in der Neuübersetzung von Eike Schönfeld erschienen sind. Sie heißt „Teddy“. Sie handelt von einem neunmalklugen Jungen, der nicht mal in der Pubertät ist, sich aber über den Apfel der Erkenntnis auslässt, den man zu erbrechen habe, will man das rechte Wesen der Dinge erfassen. Sein Gesprächspartner, der etwas ältere Junge Bob Nicholson, ist angetan und ungläubig und verwickelt Teddy in ein Gespräch auf dem Sonnendeck eines Kreuzfahrtschiffs, während Teddys Eltern in ihrer Kabine auf die Rückkehr seiner kleinen Schwester warten. Teddy mokiert sich in diesem Gespräch dann noch sehr über das „Gefühlige“ seiner Eltern. „Ich würde gern einmal wissen, warum die Leute es für so wichtig halten, emotional zu sein“, sagt er. Um am Ende der Geschichte höchstwahrscheinlich endgültig auf der bösen Seite angekommen zu sein.

Auch die erste Erzählung, „Ein idealer Tag für Bananenfische“, ist seltsam, aber direkter. Hier gibt es einen jungen Mann namens Seymour, der mit seiner gelangweilten jungen Frau in einem Hotel am Strand abgestiegen ist und mit einem befreundeten kleinen Mädchen im Wasser spielt, bis er sich, zurück im Hotelzimmer neben seiner schlafenden Gattin, eine Kugel in den Kopf jagt. Die Gewalt ist nie weit in diesen Geschichten. Und diese erste Geschichte ist in einer Art klassisch, dass auch die ästhetischen Sinne wehtun – eine Kurzgeschichte, die mit dem Selbstmord der Hauptfigur endet? Hört sich nach Pubertätsprosa an.

Aber Salinger ist natürlich noch in anderer Art klassisch. Oder, besser: ein Klassiker. Dass er für seinen Verlorene-Jugend-Roman berühmt ist und nicht für die Short Stories, ist fast schon ein Unglück. Die neun Erzählungen hier sind jedenfalls allerbestes amerikanisches Erzählen. Salinger wählt Ausschnitte, um auf ein Ganzes zu zielen. Die Dialoge sind bestens abgelauscht und durch Einsatz von Kursivdruck betont genuin. Das Zeitkolorit ist aufs Schärfste eingefangen – der Ennui der frühen Nachkriegsjahre. Die kulturelle Revolution der sechziger Jahre steht noch bevor, die amerikanische Mittelschicht samt ihren Kindern sonnt sich noch im Interregnum der Langeweile, das irgendwo zwischen Kriegspsychose und Schönwetterdepression stattfindet. Man kennt das von Yates oder Cheever, man kennt das aus Filmen oder der Serie „Mad Men“.

Was auffällt: dass Salinger Kinderfiguren mochte. Obwohl sie wie Teddy auch einmal die Rolle des Bösen erfüllen müssen. Oder wie Lionel in der Geschichte „Am Dingi“ gern einmal die Flucht vor den Erwachsenen antreten. In „Für Esmé – in Liebe und Elend“ rettet eine junge Engländerin einen amerikanischen Soldaten, „Der lachende Mann“ wird gleich aus nachgeholter Kinderperspektive erzählt – meisterhaft. Die auftretenden Kinder werden ernst genommen, die Erwachsenen hingegen in ihrer Hinfälligkeit bloßgestellt. Also die Zukunft gehört den Kindern? Nein, so ist es auch nicht. Die dunklen Töne – siehe „Teddy“ – bleiben.

Salinger, so scheint es, musste sich einiges von der Seele schreiben; er tat dies auf einfühlsame und genaue Weise und bildete so ein Panorama der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft ab. Erstaunlich nur, dass dieses Vagieren zwischen Tristesse und Beherrschung bei aller Traurigkeit so glamourös wirkt. Muss an der Salinger’schen schriftstellerischen Eleganz liegen.

Ein Wort zur Übersetzung: Die ursprünglich von den Eheleuten Böll geleistete Übertragung ist mir unbekannt; Schönfeld aber schafft es, eine Neuübersetzung plausibel zu machen: Sie macht keinesfalls den Fehler, durch ausgestellte Aktualisierung die ursprüngliche Sprachatmosphäre zu vernachlässigen, sondern bleibt dicht am Material und schafft es somit, diese Eleganz auch ins Deutsche zu retten.

Salinger ist daran gescheitert, seine goldenen Jahre, so abgründig sie schimmerten, zu überwinden und sich der neuen Zeit nach 1965 zu stellen. Er hat es gar nicht erst versucht. Er schwieg lieber und übte sich in Zen-Meditation. Vielleicht war das sogar besser so – denn so bleibt er einer der Größten seiner Zeit, der trostlos glamourösen „Wirtschaftswunderjahre“ in Amerika.

J. D. Salinger: „Neun Erzählungen“. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, 224 Seiten, 15 Euro