: Musikalische Experimente in Osnabrück
Niemand geringeres als Sir Simon Rattle hatte den Posaunisten Hermann Bäumer ermutigt, sich als Dirigent zu versuchen. Generalmusikdirektor ist er jetzt und überrascht Publikum und Orchester mit seinen Ideen. Von den allzu großen Fußstapfen seines Vorgängers redet in der Stadt niemand mehr
Aus Osnabrück Anne Diekhoff
Was für ein pompöses Wort: Generalmusikdirektor. Es lässt an einen erhabenen Herrn mit tiefernster künstlerischer Aura denken. Dann kommt Hermann Bäumer um die Ecke: Nicht gerade groß, in Jeans und Pulli, energiegeladenen Schrittes und „wie immer ein bisschen zu spät“. Das sagt er zur Begrüßung und schickt ein Lächeln hinterher. Seit einem Jahr ist Hermann Bäumer Generalmusikdirektor, kurz GMD, in Osnabrück.
Noch bevor der Wein bestellt ist, betitelt er seine eigene Geschichte: „Vom Spieler zum Trainer“ heißt sie – das habe allerdings schon mal jemand über ihn geschrieben. Es hat ihm gefallen, weil der Sportvergleich nicht von ungefähr kommt. Sein Wissen über Fußball-, Handball-, Tischtennis- und sonstige Ligen gilt ihm als Gegenargument – sollte ihm jemand einen musikalischen Tunnelblick vorwerfen. Während des Gesprächs stellt er die Folie seiner Zigarettenschachtel kopfüber auf den Tisch und fragt: „Was ist das?“. Er grinst. „Der Trophäenschrank von Bayer Leverkusen.“
Bäumer zündet sich eine Zigarette an. Vielleicht will er mit 50 mit dem Rauchen aufhören. „Dann wären es 25 Jahre.“ Zehn Raucherjahre hat er noch vor sich. „Quarterlife-Crisis“ könnte man die Phase nennen, in der Bäumer das Nikotin entdeckte. „Das war so eine typische ‚Wir denken mal übers Leben nach und was wir eigentlich bisher gemacht haben‘-Zeit.“ Bisher hatte er Abitur und Zivildienst in Bielefeld gemacht, Klavier, Cello und Posaune Spielen gelernt, an der Musikhochschule Detmold studiert – und dazu ab dem dritten Semester als Bassposaunist fest bei den Bamberger Symphonikern gearbeitet.
Mit Mitte 20 war die Grübel-Krise aber fürs erste auch schon wieder beendet: Er wechselte als Posaunist zu den Berliner Philharmonikern. Ein Traumjob. Elf Jahre hat er ihn gemacht und in dieser Zeit von Abbado über Harnoncourt und Barenboim bis Rattle unter allen großen Dirigenten gespielt. Nebenbei lernte er in Leipzig Dirigieren – an der Hochschule für Musik und Theater und mit Orchestern. „Ich dachte irgendwann, ich hätte jetzt gerne noch einen anderen Aufgabenbereich“, erklärt er seinen Wechsel auf die Trainerbank, „dezidiert gestalten zu können und für etwas größeres Ganzes Verantwortung zu übernehmen – das finde ich total super.“ Sicherheitshalber hatte er zuvor die Meinung seines damaligen Chefs eingeholt. Sir Simon Rattle habe sich ein Dirigat Bäumers angesehen und dann gesagt „Schade für uns, aber du musst es machen.“ Er sieht stolz aus, als er das erzählt.
Aber ganz so einfach gestaltete sich der große Schritt dann doch nicht. Ein „Desaster“ hatte die Neue Osnabrücker Zeitung den überraschenden Weggang von Bäumers Vorgänger Lothar Königs im Jahr 2003 genannt. Von dessen Fußstapfen war im folgenden in Osnabrück viel die Rede. Die Findungskommission tat sich schwer mit einem Nachfolger – elf Bewerber dirigierten ergebnislos zur Probe. Schließlich nominierte man den relativ unerfahrenen Hermann Bäumer nach und entschied sich für ihn. Nachdem er bereits ein halbes Jahr Erster Kapellmeister und kommissarischer GMD in Osnabrück gewesen war.
„Die haben sich gefragt, ist das jetzt eigentlich wirklich ein Künstler oder ist der viel zu normal?“, sagt Bäumer über die erste Reaktion der Osnabrücker auf ihren neuen Generalmusikdirektor. Der antwortete auf seine Weise. Beim Schulkonzert fuhr er mit einem Schlitten auf die Bühne, eingemummelt in Mütze und Schal. Das war sein Weg, den jungen Konzertbesuchern den Zugang zur klassischen Musik zu erleichtern – sie hörten an diesem Tag Leopold Mozarts „Musikalische Schlittenfahrt“.
Kinder zur Musik zu bringen ist einer der wichtigsten Aufträge, die Hermann Bäumer sich für seine Arbeit in Osnabrück gegeben hat. Das hat letztendlich auch die Findungskommission überzeugt: Sein Programm „Moving Theatre“, in dem Schulklassen mit Orchestermusikern zusammen Musik zu komponieren, wird als einer der Gründe genannt, warum er den Zuschlag bekam.
Ein weiterer war das Votum des Orchesters, das klar für Bäumer ausfiel. Damit ließen sich die Musiker auf einige Neuerungen ein, beispielweise auf den Wechsel zur historischen Aufführungspraxis: Von Anfang an sitzen unter dem neuen GMD die Zweiten Geigen rechts von ihm. Damit möchte Bäumer den Vorstellungen der alten Komponisten – bis einschließlich Mahler – entsprechen. „Ein gefährliches Experiment“ nannte das die Neue Osnabrücker Zeitung anlässlich Bäumers erster Produktion und schob gleich hinterher: „Experiment gelungen“.
Die zweite große Neuerung ist Bäumers Idee vom richtigen Zusammenspiel: Der Dialog zwischen den einzelnen Musikern steht für ihn im Vordergrund. Deshalb nimmt er sich beim Dirigieren zwischendurch auch mal zurück – als Aufforderung an die Musiker, mehr aufeinander zu achten. „Ich finde, so bekommt das Orchester einen viel entspannteren und organischeren Klang“, sagt er.
Kein kleiner Schritt für die Musiker: „Wir waren so erzogen, dass alles von vorne kommt“, sagt Geiger Christian Heinecke, „und plötzlich musste man nicht nur auf sich selbst und den Dirigenten achten, sondern auch auf die anderen Stimmen – das war eine große Umstellung.“ Manche Musiker täten sich mit dieser neuen Arbeitsweise schwer, aber der Orchestervorstand hofft, dass auch die Skeptiker bald überzeugt sind. „Bäumer ist der erste Dirigent, der dem Orchester mal ein Ziel genannt hat“, sagt Heinecke, „wir empfinden das wie einen Aufbruch, wo jeder eingeladen ist mitzumachen, und wir hoffen, dass alle auf den Zug aufspringen.“
Auch hätten sie jetzt das Gefühl, nicht nur als schwarze Frackträger im Hintergrund zu sitzen, sondern als Persönlichkeiten im Orchester wichtig zu sein. „Bäumer hat uns dafür ein schönes Bild genannt“, erzählt Flötistin Sabine Ehses, „er versteht uns als Seilschaft, die gemeinsam einen Gipfel erklimmen will – auf jeden kommt es an, er gibt nur die Route vor.“
Das Ziel, zu dem diese Route führen soll, klingt bei Hermann Bäumer so: „In ein paar Jahren sollen die Leute sagen: Wenn ihr mal erleben wollt, wo wirklich was passiert, dann fahrt nach Osnabrück.“
Bäumer Live: Am 5. und 6. Juni spielt das Osnabrücker Symphonieorchester Robert Schumanns Violoncello-Konzert op. 129 (Solist: Jan Vogler) und Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 5 cis-moll in der Stadthalle Osnabrück. Am 2. Juli: Premiere der Wagner-Oper „Der fliegende Holländer“, im Stadttheater Osnabrück (Inszenierung: Norbert Hilchenbach).