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Selten gesehene Klassiker

Wiederentdecken eines Meisters: Das Kino Arsenal zeigt ab Freitag Filme des bengalischen Regisseurs Satyajit Ray

Von Fabian Tietke

Die Guavenbäume, von denen die junge Durga eine Frucht pflückt, sind Zeugnisse besserer Zeiten für ihre Familie. Nun sind sie im Besitz einer Familie von Geldleihern, und das junge Mädchen wird verscheucht, wenn sie sich dem Obstgarten nur nähert. Ihre eigene Familie lebt in Bengalen Anfang des 20. Jahrhunderts in ärmlichen Verhältnissen. Der Vater ist ein Priester mit den Ambitionen, Schriftsteller zu werden, die Mutter damit beschäftigt, die Familie am Leben zu halten. Bald bekommen die beiden Eltern noch einen kleinen Sohn, um den sich Durga aufmerksam kümmert.

Apu, der Sohn, wächst im Laufe von Satyajit Rays „Pather Panchali“ (1955) zu der Hauptfigur heran, die er in zwei weiteren Filmen sein wird. „Pather Panchali“, Rays erster Film, gewann einen Preis auf den Filmfestspielen von Cannes, katapultierte den bengalischen Sohn einer Künstlerfamilie und das bengalische Kino auf die Weltbühne. Die folgenden Filme der Apu-Trilogie zementierten Rays Status als einer der wichtigsten Regisseure seiner Zeit. Am kommenden Wochenende ist die Trilogie, zu der neben „Pather Panchali“ auch „Aparijito“ (1956) und „Apur Sansar“ (1959) gehören, im Rahmen einer von dem Programmgestalter Gary Vanisian für das Kino Arsenal organisierten Retrospektive des Regisseurs in ihrer ganzen Pracht zu bewundern.

Es ist eine viel zitierte Anekdote der Filmgeschichte, dass Rays Anfänge als Filmemacher von der Begegnung mit westlichen Realismen wie dem italienischen Neorealismus und dem magischen Realismus des französischen Kinos der 1930er und 1940er Jahre inspiriert wurden. Diese Filme trafen jedoch auf eine bereits existierende realistische Tendenz im bengalischen Kino, die von einer neuen Welle von Regisseuren, zu denen Ray gehörte, aufgegriffen wurde.

Die Filme Satyajit Rays prägen auch die Geschichte des Arsenals von der ersten Stunde an. Noch bevor sie ein eigenes Kino hatte, widmete die Vorgängerorganisation des Arsenals dem bengalischen Regisseur und seinem ersten Film eine Veranstaltung in der Akademie der Künste. In seiner gemeinsam mit Enno Patalas verfassten Geschichte des Films wiederum schreibt der Arsenal-Mitbegründer Ulrich Gregor über die ersten Filme Rays: „Die Apu-Trilogie besitzt einen langsamen, epischen Rhythmus, in dem aber doch die geduldige Anteilnahme an unscheinbaren Vorgängen sich ausspricht. In Blicken, Gesten, Kamerawinkeln artikuliert sich das eigentliche Geschehen. So bescheiden sich jedes einzelne Bild gibt, so voll von subjektiver Intensität ist es zugleich.“

Zu Beginn von „Charulata“ (1964) zückt die gleichnamige Protagonistin ein Opernglas, um die Passanten auf der Straße besser durch die Fensterläden beobachten zu können. Eine sinnbildliche Szene: Charulata ist klug, eine begabte Schriftstellerin und doch für die männliche Welt der bengalischen Renaissance des 19. Jahrhunderts unsichtbar. Rays Film setzt die Protagonistin vor dem Hintergrund der immer stärker enttäuschten Hoffnungen einer bürgerlichen Elite auf mehr politische Selbstbestimmung unter britischer Herrschaft zwischen ihren Mann Bhupati, einen wohlhabenden Zeitungsherausgeber, und dessen jüngeren Bruder, den Schriftsteller Amal. „Charulata“ ist ein ebenso eleganter wie ergreifender Film und gewann 1965 den Silbernen Bären der Berlinale.

Die Filme Satyajit Rays sind längst zu Klassikern des Kinos avanciert, in den letzten Jahren jedoch nur noch selten im Kino zu sehen. Die Retrospektive, die Gary Vanisian für das Arsenal organisiert hat, leistet diesem Verschwinden willkommene Abhilfe. Die Reihe lädt ein zur (Wieder-)Begegnung mit einem der Großen der Filmgeschichte, dessen Filme sich Seherwartungen und Sehgewohnheiten gleichermaßen entziehen. Nicht nur darin hat sich Rays Kino große Aktualität bewahrt.

19. Juli bis 23. August, Kino Arsenal

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