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Archiv-Artikel

„Deutschland-Türke ist okay“

Safter Cinar

„Deutsche sind präzise. Alles ist sehr sachlich, auch wenn ein bisschen Emotionalität ganz gut tun würde. Im Orient kommt man erst nach zwei Stunden zum Punkt. Sich da in der Mitte zu treffen, wäre bestimmt nicht verkehrt“

Er ist ein „staatlich anerkannter Türke“, wie er selbst gerne sagt, und Multifunktionär in eigener Sache: Safter Cinar ist Sprecher des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg (TBB), stellvertretender Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland und Chef des Türkischen Elternvereins. Der 59-Jährige wurde in Brüssel geboren und hat am deutschen Gymnasium in Istanbul sein Abitur gemacht. 1967 kam er zum Betriebswirtschaftsstudium nach Berlin. Bis zum Dienstag hat Safter Cinar zusätzlich zu seinen vielen Aufgaben auch noch einen bezahlten Job: Er leitet die Ausländerberatungsstelle des DGB. Am Mittwoch geht er in den Vorruhestand. Ein Gespräch über Identität

INTERVIEW SABINE AM ORDE UND UWE RADA

taz: Herr Cinar, in welcher Sprache träumen Sie?

Safter Cinar: Das hängt vom Gegenstand des Traums ab. Ich habe türkische Träume, und ich habe deutsche Träume.

Und welche sind die schöneren?

(lacht) Das kann ich nicht sagen. Ich glaube, dass kann man nicht eindeutig einer Sprache zuordnen.

Auch nicht das Fluchen? Das wäre doch typisch deutsch.

Nein. Man kann auf Deutsch überhaupt nicht gut fluchen. Welche Schimpfwörter gibt es denn im Deutschen? Schimpfwörter gibt es im Orient.

In welcher Sprache drücken Sie welche Gefühle aus?

Das hängt vom Gegenstand und der Umgebung ab. Wenn ich ein Fußballspiel aus der Türkei sehe, ist jede Trauer- oder Freudenbekundung auf Türkisch.

Wie ist es, wenn Deutsche gegen Türken spielen?

Da muss ich gestehen, dass ich immer auf der Seite der Türken bin. Ich hoffe, das kostet mich jetzt nicht meinen deutschen Pass, auch wenn Günther Beckstein Bundesinnenminister wird.

Und wenn Yildiray Bastürk Hertha in der kommenden Saison nicht in die Champions League schießt?

Der hat so gut gespielt, das verzeihen wir ihm.

Bastürk müsste eigentlich Integrationsbeauftragter bei Hertha sein. Wenn Menschen mit Migrationshintergrund es beruflich zu etwas bringen, dann doch fast immer als Experten in eigener Sache.

Prinzipiell bin ich der Meinung, dass Menschen mit Migrationshintergrund von diesem Thema wegkommen sollten. Viele haben andere Kompetenzen. Ich selbst bin ein Vertreter der ersten Generation und damals automatisch in diese Arbeit hineingewachsen.

Im Zusammenhang mit Integration ist inzwischen weniger von sozialer Chancengleichheit als von Identität die Rede. Wie würden Sie sich selbst beschreiben: als Deutsch-Türken, Türkischstämmigen, Deutschen türkischer Herkunft, Türken mit deutschem Pass?

Türke mit deutschem Pass ist eine Diskriminierung. Aber Deutsch-Türke, Deutschland-Türke ist okay. Ich bin schließlich erst mit 21 Jahren nach Deutschland gekommen und hatte eine starke Sozialisation in der Türkei.

Viele Migranten sprechen von einem Gefühl der Zerrissenheit zwischen den Kulturen. Kennen Sie dieses Gefühl?

Nein. Ich will niemandem seine Gefühle streitig machen, aber ich glaube den meisten das auch nicht. Im alltäglichen Leben ist dieses Gefühl bestimmt nicht entscheidend.

Dann war auch der Konflikt, der Fatih Akins Film „Gegen die Wand“ zugrunde liegt, ein reines Konstrukt?

Nein. Es kann zu einer Zerrissenheit kommen, wenn die eigenen Vorstellungen mit denen der Eltern nicht übereinstimmen. In dem Film, den ich sehr gut fand, war der Konflikt ja nicht in der Frau selbst angelegt, sondern er wurde ihr von außen übergestülpt. Das ist dann keine innere Zerrissenheit, sondern eher ein Generationenkonflikt. Für die Jugendlichen ist das schwierig: Sollen sie ihre eigenen Vorstellungen umsetzen und einen Konflikt mit der Familie eingehen oder lieber nachgeben?

Gab es solche Konflikte in Ihrer Familie? Zum Beispiel als Sie eine Deutsche geheiratet haben?

Nein, meine Mutter fand das gut. Sie hat gehofft, ich würde dadurch zivilisiert.

Und Ihre Töchter: Haben die es leicht gehabt?

Ob man es mit mir leicht haben kann, sei mal dahingestellt. Aber im Großen und Ganzen sind sie mit mir zufrieden. Die eine ist jetzt 33, die andere 22. Am besten, Sie fragen sie selbst.

Sind Ihre Töchter Deutsche, Türkinnen oder Deutsch-Türkinnen?

Sie sind Deutsch-Deutsche.

Deutsch-Deutsche?

Die Ältere hat mit dem „Türkentum“ nichts am Hut. Bei der Jüngeren ist es anders: Bis ich mich von meiner Frau getrennt habe – meine Tochter war damals dreieinhalb –, habe ich mit ihr nur türkisch gesprochen. Von ihrer Sozialisation her ist sie eher Deutsche. Aber sie hat einen eigenen Anspruch, Türkin zu sein, hört gerne türkische Musik und versteht auch sehr gut Türkisch.

Ist Ihre ältere Tochter zweisprachig aufgewachsen?

Nein, wir haben beide deutsch mit ihr geredet.

Hatten Sie nicht das Bedürfnis, ihr etwas von der Türkei, Ihrer Muttersprache mitzugeben?

Bei der Älteren war es mir nicht wichtig, irgendein Türkentum weiterzugeben, auch wenn ich da in der Community in der Minderheit war und bin. Die Kinder sollten vor allem so aufwachsen, dass sie hier ihr Leben organisieren können. Bei der Jüngeren war das anders: Ich hatte in der Zwischenzeit angefangen, Politik zu machen. Am Anfang meiner GEW-Zeit gab es diesen ganzen Kampf um die Bedeutung der Muttersprache. Das hat mich beeinflusst. Nach der Trennung haben wir trotzdem meist deutsch geredet, weil das einfach besser ging.

Ihre Exfrau, die Mutter ihrer beiden Töchter, ist Deutsche. Hatte die Trennung auch etwas mit kulturellen Identitäten zu tun?

Selbstverständlich. Ich habe sie immer verprügelt, und irgendwann wollte sie nicht mehr. Aber im Ernst: Es ist natürlich schwer, das voll zu verneinen, weil bestimmte Verhaltensweisen persönlich plus kulturell sind. Aber das Kulturelle war nicht ausschlaggebend. Wir haben uns auseinander gelebt. Das war ja in den 80er-Jahren: Da habe ich Gewerkschaftsarbeit gemacht und wollte aus 2.000 Kilometer Entfernung nach dem Militärputsch auch noch die Türkei retten. Da blieb für das Private keine Zeit.

Hätte es damals auch eine türkische Frau sein können?

Als ich nach Deutschland kam, war ich mit einer Türkin in der Türkei verlobt. Das ist durch die Entfernung nicht gegangen. Dass ich dann eine Deutsche geheiratet habe, war Zufall.

Sie kommen aus einem großbürgerlichen, akademischen Elternhaus. Ihr Vater war Professor in Brüssel. Als Sie anderthalb Jahre alt waren, sind Ihre Eltern in die Türkei zurückgekehrt. In Istanbul sind Sie später auf die deutsche Schule gegangen. Warum?

Weil man Vater in Deutschland studiert hatte. Da lag das nahe.

Wie muss man sich diese Schule vorstellen?

Das war natürlich ziemlich elitär, was nicht durchgängig für meine Familie gilt. Wir haben zum Beispiel immer in Stadtteilen gelebt, wo es auch andere Schichten gab. Schule habe ich immer als Ärgernis wahrgenommen. Deshalb finde ich – auch wenn ich GEW-Funktionär war – den Satz von Bakunin so gut: Schule ist Unzucht mit Abhängigen. Für das deutsche Gymnasium in Istanbul gibt es eine Vorgabe der türkischen Regierung, dass Fächer wie Sozialkunde von türkischen Lehrkräften und mit türkischen Büchern unterrichtet wurden. Die naturwissenschaftlichen Fächer wurden auf Deutsch gelehrt. So hatte ich die Möglichkeit, beide Kulturen mitzubekommen. Die deutsche Seite war, denke ich, liberaler. Man konnte im Unterricht offener diskutieren.

In der Schule ist also schon die Grundlage für Ihre Bindestrich-Identität gelegt worden.

Im Grunde ja. Wenn ich allerdings in der Türkei geblieben wäre, hätte sich das bestimmt bald wieder abgeschliffen. Was für mich auch wichtig war, war, mit der deutschen Literatur in Kontakt zu kommen, die hat mir neue Perspektiven eröffnet. Ich bin ein absoluter Max-Frisch-Fan. Mein Lieblingsstück ist „Biographie“, das 1968 uraufgeführt wurde.

Warum?

Weil es mich zum Nachdenken gebracht hat. Im Grunde geht es ja darum, dass man bestimmte Entscheidungen zwar bereuen kann, aber hätte man sich anders entschieden, hätte man denselben Fehler nur anders gemacht. Außerdem schreibt Frisch witzig, nicht so todernst. Das gilt auch für Böll, den ich auch sehr mag. Grass dagegen gar nicht.

Sie sind 1967 mitten in die Studentenbewegung nach Berlin gekommen. Was waren Ihre ersten Eindrücke?

Der erste Eindruck war: um Gottes willen – obwohl meine Familie eine sehr politische Familie war, aber eben nach türkischen Verhältnissen. Ich habe natürlich alles, was ich in Berlin erlebt habe, mit meiner Heimat verglichen.

Und was war das Ergebnis?

Eine gut funktionierende Demokratie ist was Gutes. Das meine ich völlig ernst.

Sind Sie dadurch politisiert worden?

Das ist schwer zu sagen. Wichtig waren auch die Diskussionen während der Brandt-Scheel-Regierung. Am Anfang habe ich vieles nicht verstanden, weil ich die Vorgeschichte nicht kannte. Aber ich habe mir viele Gedanken gemacht. Bis 1978 war ich bei den Jusos aktiv, in den 80er-Jahren dann drei, vier Jahre bei der AL …

der Alternativen Liste, wie die Berliner Grünen damals hießen

Dann kam die GEW. Für die ganze Integrationspolitik war wichtig, dass ich als Student, als die ersten Arbeitsmigranten nach Berlin kamen, für Betriebe gedolmetscht habe. Die haben Türken gesucht, die gut deutsch sprechen.

Sie haben vorhin gesagt, dass die Zerrissenheit der Migranten oft herbeigeredet sei. Wenn es diese innere Zerrissenheit nicht gibt, ist dann auch der Vorteil, in zwei Kulturen zu Hause zu sein, eine reine Konstruktion?

Nein, das ist eine Chance, einfach weil es eine weitere Weltsicht eröffnet. Es gibt im orientalischen Denken Flexibilitäten, die es im Deutschen nicht gibt. Da sind feste Schablonen bestimmend. Wenn man in der Lage ist, beides zu nutzen, ist das doch eine Bereicherung.

Nennen Sie uns ein Beispiel.

Deutsche fassen sich oft sehr kurz und sind präzise. Alles ist sehr sachlich, auch wenn ein bisschen Emotionalität ganz gut tun würde. Im Orient kommt man erst nach zwei Stunden zum Punkt. Sich da in der Mitte zu treffen, wäre bestimmt nicht verkehrt. Ich hatte diesbezüglich, gleich als ich nach Berlin kam, ein Schlüsselerlebnis.

Welches?

Ich war damals bei einer deutschen Familie zum Abendessen eingeladen. Der Tisch wurde gedeckt, und ich wurde gefragt: Wollen Sie etwas essen? Als guter Orientale habe ich, obwohl ich Hunger hatte, nein gesagt.

Haben Sie einen Teller gekriegt?

Nein. Im Orient müsste ich mindestens dreimal nein sagen, um dann doch zu essen. So gebietet es die Höflichkeit. Immerhin habe ich daraus gelernt, dass man in Deutschland immer sofort sagen muss, was man will.