das wird: „Du bist verrückt“, sagte seine Mutter
Er war ein Vorzeigesportler des sozialistischen Staates, aber der war ihm zu eng: 1969 schwamm Axel Mitbauer aus der DDR in den Westen. Davon erzählt er jetzt – am Start und am Ziel seiner Flucht
Von Frauke Hamann
Mit dem Bau der Mauer im August 1961 bekommt die deutsch-deutsche Teilung eine neue Dimension: Wachtürme und Grenzschutzanlagen hindern die DDR-Bewohner an der Flucht in den Westen. DDR-Bürger können diese innerdeutsche Grenze fortan nur unter Einsatz des eigenen Lebens überwinden.
Das erfährt auch Axel Mitbauer. Der Leipziger, Jahrgang 1950, ist in einer regimekritischen Familie aufgewachsen. Die elterlichen Polstereibetriebe wurden enteignet – diese wirtschaftliche Drangsalierung löst einen unheilbaren Riss aus. Doch Axel Mitbauer ist auch ein hoch talentierter Schwimmer, er wird schon mit acht Jahren gezielt unterstützt und zum Aushängeschild staatlicher Sportförderung. Mit zwölf gehört er zum DDR-Nationalkader, schwimmt täglich sechs bis sieben Stunden, absolviert 20 Kilometer und mehr.
Mitbauer, zwei Mal DDR-Meister über 400 Meter Freistil, qualifiziert sich auch für die Olympischen Spiele 1968 in Mexiko. Dann verhaftet ihn die Staatssicherheit: Mitbauer hatte westdeutschen Schwimmern Fluchtgedanken offenbart, doch werden die Pläne entdeckt. Mitbauer erträgt wochenlange Haft, nach der Entlassung wird er für sämtliche Wettkämpfe gesperrt – lebenslänglich.
22 Kilometer bis Travemünde
Da belauscht der Athlet zufällig ein Gespräch: Von Boltenhagen aus sei die Flucht über die Ostsee möglich. „Du bist verrückt“, sagt seine Mutter, als er sie einweiht: Er will nachts die Ostsee bei 18 Grad Wassertemperatur durchschwimmen, 22 Kilometer vom westlichsten Ostseebad der DDR bis nach Travemünde, BRD. Mitbauer erzählt bis heute immer mal davon, wie er das reglementierte Leben satt hatte. Wie er die Lage in Boltenhagen erkundete – dort, wo der Badestrand nachts bewachte Sperrzone wird. Wie seine Mutter ihn mit Vaseline einrieb und seine Sachen an sich nahm. Und wie er losschwamm am 17. August 1969 um 21 Uhr.
Vortrag und Gespräch „Davongekrault – Die Flucht des Axel Mitbauer über die Ostsee“ mit Axel Mitbauer, René Wiese (Zentrum deutsche Sportgeschichte) und Volker Höffer (Stasi-Unterlagen-Archiv):
Mi, 17. 7., 18 Uhr, Clubhaus des TSV, Lübeck-Travemünde
Do, 18. 7., 19 Uhr, Boltenhagen, Festsaal
Die Suchscheinwerfer setzen, technisch bedingt, immer wieder kurz aus. „Weiter draußen war ich dann geschützt durch die Wellenkämme.“ Vom Polarstern geleitet, erreicht er gegen 1 Uhr früh die Lübecker Bucht. Bei Windstärke 5 wird eine Leuchtboje im wahrsten Wortsinn zu seinem Haltepunkt: Er klammert sich daran. „Da sitzt einer auf der Boje“: Am frühen Morgen entdeckt ein Besatzungsmitglied der „Nordland“ den durchgefrorenen Mann. Das Fährschiff nimmt ihn an Bord und legt um 7.35 Uhr in Travemünde an.
Axel Mitbauer nennt seine Flucht „einen Sieg des Willens“. 55 Jahre nach diesem lebensbestimmenden Ereignis kommt er wieder an die Trave, aber auch nach Boltenhagen, um über seine spektakuläre Flucht zu sprechen; ferner über die Zeit danach: als Leistungsschwimmer und Schwimmtrainer im Westen. Bei der Europameisterschaft in der 4 x 200 m Freistil Staffel holt er 1970 Gold – für die Bundesrepublik. Zur Weltspitze kann er jedoch nicht mehr aufschließen, wohl wegen der erzwungenen Pause.
Grenzen können abwehren, aber zugleich sperren sie ein, hatt die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown über Mauern als Machtform geschrieben. Demnach können Grenzen „kein äußeres ‚sie‘ definieren, ohne ein reaktionäres ‚wir‘ zu produzieren.“ Jede Grenze verheißt aber auch die Möglichkeit, sie zu überwinden. Mehr als 5.000 DDR-Bürger versuchten nach 1961, über die Ostsee zu fliehen. Von ihnen wurden 4.522 entdeckt und festgenommen, 174 kamen bei dem Fluchtversuch um. Axel Mitbauer gehört zu den 913 Menschen, die damit erfolgreich waren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen