: Protestanten wollen politischer werden
Zum fünftägigen Evangelischen Kirchentag kamen bei strahlendem Wetter über eine Million Menschen nach Hannover. Kirchentagspräsident Eckhard Nagel: „Rechnet mit uns, wir mischen uns ein.“ Hoffnung auf ein Comeback des Glaubens
VON PHILIPP GESSLER
Am Ende war – wie üblich – die Zeit der großen Zahlen und großen Appelle: Zum Abschluss des 30. Evangelischen Kirchentags in Hannover schätzten die Organisatoren die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am fünftägigen Christentreffen auf insgesamt mehr als eine Million Menschen. Allein 370.000 Gläubige hatten sich zum Auftakt am Mittwochabend in der hannoverschen Innenstadt zu Gottesdiensten versammelt. Zur Abschlussabendmahlsfeier unter freiem, strahlendem Himmel strömten am Sonntag noch einmal über 100.000 Menschen. Die Veranstalter erklärten, der alle zwei Jahre stattfindende Kirchentag, eine deutsche Spezialität, sei die größte Laienbewegung der Welt.
„Das war wie Weihnachten bei 30 Grad“, schwärmte die Gastgeberin des protestantischen Events, Margot Käßmann. Die Bischöfin von Hannover rief zu Mut für die Zukunft und zu mehr Kinderfreundlichkeit auf. Kinder sollten aber nicht als ökonomischer Faktor betrachtet werden: „Mensch, Deutschland, sieh das doch endlich!“, sagte Margot Käßmann. Der Kirchentag stand in diesem Jahr unter dem Motto: „Wenn dein Kind dich morgen fragt …“, eine Stelle aus dem 5. Buch Mose.
Ob des zahlenmäßigen Erfolgs des Treffens sah Kirchentagspräsident Eckhard Nagel im Abschlussgottesdienst den Beginn neuer Aufgaben für die evangelischen Gläubigen: „Wir sind aufgebrochen, eine Kirchentagsbewegung im internationalen Rahmen zu werden.“ Kirche müsse wieder politischer werden, wenn es darum gehe, christliche Werte im Alltag zu leben: „Rechnet mit uns, wir mischen uns ein“, versicherte Nagel. Die anstehenden Neuwahlen hätten auf den Kirchentag gewirkt.
Tatsächlich kamen zum evangelischen Traditionstreffen wieder rund zwei Dutzend Persönlichkeiten aus der politischen Klasse – was seit Jahrzehnten durchaus üblich ist. Zu ihnen gehörten etwa Bundespräsident Horst Köhler, Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und die angehende CDU/CSU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel. Während die meisten bereits seit Monaten zum Kirchentag eingeladen worden waren und auch nicht unbedingt über politische Themen sprachen, konnten es sich die FDP-Spitzenkräfte Wolfgang Gerhardt und Guido Westerwelle nicht verkneifen, angesichts der kommenden Wahlen im September von sich aus zu kommen und mit Gängen über das Kirchentagsgelände potenzielles Wahlvolk zu treffen. Hannover, das war in den vergangenen Tagen für die politische Elite des Landes so etwas wie „the place to be“ – nur Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) sagte sein Kommen ziemlich nonchalant und kurzfristig ab.
Und was bedeutet die zahlenmäßige und mediale Attraktivität des Kirchentags für die Kirche und den Glauben? Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, sprach zum Abschluss davon, es gebe Signale für ein „Comeback des Glaubens“. Das Interesse an Glaubensfragen und Werten sei spürbar gewachsen. So rebelliere die Seele der Menschen gegen ihre kommerzielle Reduktion. Margot Käßmann sprach von einem „Dauerhoch“ für die Kirche. Das Wetter zumindest gab ihr Recht.