berliner szenen: Solange es nur die Haare sind
Es ist Sonntagnachmittag und in der S-Bahn ist es angenehm leer. Mir gegenüber ist ein junges Paar mit einem Kinderwagen. Sie wirken beide übernächtigt. Beide Frauen haben auffällig lange Haare. Die eine sitzt da, hält eine offene Flasche Wasser in der Hand und versucht, mit einem Spucktuch die weißen Milchflecken auf ihrer Schulter und aus dem Haar zu reiben. Ach ja, erinnere ich mich. Es ist lange her.
Die andere Frau trägt das Baby in einer Trage vor ihrem Bauch und läuft mit ihm auf und ab. Das Baby macht kleine Geräusche und sie küsst das Kind ab und zu auf den Kopf. Eine Frau mit einem Fahrrad und vielen Taschen betritt den Wagen. Auch sie beobachtet die junge Familie interessiert. Sie sieht aus, als wird sie gleich einen guten Tipp geben, denke ich.
Die sitzende Frau gibt auf, die Spuckflecken herauszuwischen, und holt eine Papierbox mit warmem Essen heraus. Sofort riecht es lecker im Waggon. Ich bekomme Hunger. Das Baby offenbar auch. Es beginnt zu murren, während die Frau mit einer Gabel aus der Box isst und ihrer Freundin immer mal etwas davon herüberreicht. Das Baby schreit mittlerweile ungehalten.
„Na so was“, sagt die Frau mit der Trage: „Du hast doch eben schon getrunken. Willst du noch mehr?“ Die sitzende Frau macht eine Geste und ihre Partnerin wurschtelt das Kind aus der Trage und tauscht Baby und Box. Das Baby sucht sofort die Brust.
Da bemerkt die Frau mit dem Fahrrad: „Die riechen immer, wenn’s was gibt. Und später fressen sie einem noch die Haare vom Kopp.“
Die sitzende Frau guckt die Frau mit dem Fahrrad müde an: „Wenn es nur die Haare sind, wird das kein Thema. Haare haben wir.“ Sie sieht ihre Frau an. Die muss zwischen zwei Bissen lachen und ruft: „Ein Glück wird wenigstens das mal kein Problem, wo es schon so viele andere gibt.“ Isobel Markus
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