: Osterblues, never ending
SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH Die Matthäuspassion, ihre Folgen und was von Lesemarxisten zu lernen ist
■ lebt als freier Autor und Publizist in Berlin. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über das kluge Agitprop-Theater von René Pollesch, „Kitsch? Ach was!“
Tja, das war’s dann wieder mal“, seufzte der kleine Herr, der sich nach der Matthäuspassion neben mir aus der Gethsemanekirche drängelte. Ich musterte ihn von der Seite. Schütteres graues Haar, blitzblaue Augen hinter einer Fielmann-Brille, weiche, dabei konturierte Lippen, braune Halbschuhe, der Mantel aus den frühen Sechzigern. „Tja“, sagte er wieder und nahm Kontakt auf, „es scheint ja so zu sein, dass die schiere Ästhetik die Inhalte überdauert.“ Ob er das schlimm finde? „Ach wissen Sie“, wir waren draußen angekommen, „diese Bach’schen Chöre sind schon sehr mächtig, aber der Text ist doch sehr auf das Trostbedürfnis neuzeitlicher Individuen zugeschnitten. Im Übrigen theologisch sehr bestreitbar.“ Leicht brüchig, aber tonsicher intonierte er das letzte Rezitativ: „ ‚Die Müh ist aus, die unsre Sünden ihm gemacht, o selige Gebeine, seht, wie ich euch mit Buß und Reu beweine, daß euch mein Fall in solche Not gebracht.‘ Da steckt doch dieser ganze Humbug mit der geerbten Sünde drin, auch laut eurem Luther ist ja schon der Säugling sündig, an Augustin hat er sich nicht rangetraut …“
Bach, die Kitschnudel!
Um uns herum standen Familien mit frühpubertierenden Gymnasiasten. „Wissen Sie“, raunte er, und trat dicht vor mich, „wie Bach den Exitus verkitscht: unsäglich …“. Er holte eine Partitur aus dem Mantel, eine Taschenausgabe aus der DDR-Zeit: „Hier“, las er vor, „ ‚Euer Grab und Leichenstein soll dem ängstlichen Gewissen ein bequemes Ruhekissen, und der Seelen Ruhstatt sein. Höchst vergnügt schlummern da die Augen ein.‘ Das ist doch purer Wilhelm Busch. Höchst vergnügt! Reines Biedermeier …“ Beim Wort „Biedermeier“ drehte sich das Paar vor uns erschrocken um – wir waren in Prenzlauer Berg. Der kleine Herr zog mich heftig über die Straße, weg von den Kleinfamilien. „Und überhaupt“, er wurde lauter und fasste mich am Ärmel, „wurde Jesus nicht wegen Sünden gekreuzigt und schon gar nicht um dieses Quatschs mit der Erbsünde willen. Das Ganze war schlicht und ergreifend eine Niederlage. Und wenn Sie es genau wissen wollen: im Klassenkampf.“
Also doch, dachte ich, einer dieser Enttäuschungsmarxisten aus dem Leseland DDR, schlecht verrentet, einer dieser Menschen, wie sie bei Dussmann in den Sesseln sitzen und immer weiterlesen und recht haben wollen und einsam sind; aber weil meine Freundin noch immer in der Kirche war, echote ich: „Klassenkampf? und fragte dann noch, welchen Sinn seiner Meinung nach die Kreuzigung habe.
Die Thora und Occupy
„Sinn, lieber Herr“, jetzt zerrte er mich heftig am Mantel, „Sinn hat die überhaupt keinen, sie war nur eins der vielen schlimmen historischen Daten, anders als die Auferstehung übrigens, die dieser Herr in Rom für etwas hält, was sich zu einem exakten Zeitpunkt der Geschichte ereignet hat, und von dem die Kollegen von der anderen Fraktion schreiben, es sei, Moment mal“ – er zog einen zerknitterten Zettel hervor – „die eschatologische Verendgültigung und Vollendung der wesenhaft-personalen Identität und Selbigkeit des ganzen Menschen in und mit seinen weltlich-geschichtlichen Bezügen durch Gott und vor Gott“.
Er fing an zu kichern und hörte gar nicht mehr auf. Meine Freundin hatte uns gefunden, stand hinter ihm und wedelte fragend mit der Hand vor ihrer Stirn. „Wir müssen gehen“, unterbrach ich sein Kichern, das inzwischen in ein sardonisches Lachen übergegangen war, „aber worum ging es denn nun eigentlich an Ostern, Ihrer Meinung nach?“
Der kleine Herr mit dem schütteren Haar hob die geöffneten Hände auf Brusthöhe, wie es Prediger und Abgeordnete manchmal tun, jetzt sprach er langsam und ganz ernst. „Da ist einer zu Tode gekommen, einer von uns.“ Meine Freundin runzelte die Stirn im Dauerbetrieb, aber das konnte er nicht sehen.
„Er war gekommen, das können Sie nachlesen, wenn Sie es nicht wissen, das Gesetz zu erfüllen, nicht zu brechen. Die einzige größere Aktion der Karwoche war seine gewalttätige Räumung des Tempels von Wechslern und Gläubigern und Pfändungstiteln gegen verschuldete Kleinbauern. Und das Gesetz, das können Sie in Leviticus 3 und in Nehemia 5 und in Deuteronomicum 5 nachlesen, das hieß: Zinsverbot und Schuldenerlass. Übrigens eine interessante Lektüre, die Thora, das erste Gesetz einer Gemeinschaft von Gleichen und Freien. Aber wie es so ist, Gesetze sind das eine, und Wirtschaft ist das andere, spätestens zur Zeit von Rabbi Hillel war das Gesetz nur noch ein Zettel …“
Und jetzt zur Auferweckung
Aus der Plastiktüte, die er in der linken Hand trug, zog er zwei Bücher, ein rotes und ein gelbes Buch: „Wenn Sie diese Zusammenhänge interessieren, sollten Sie das lesen.“ Das gelbe Buch war Ton Veerkamps große politische Geschichte der Bibel: „Die Welt anders“. Das andere stammte von David Graeber, dem Occupy-Aktivisten: „Schulden. Die ersten 5.000 Jahre“.
„Aber sagen Sie“, mischte sich nun doch meine Freundin ein, „und was ist mit der Auferstehung, Ihrer Meinung nach?“ Jetzt ging ein Lächeln über sein Gesicht, ein merkwürdiges Lächeln, irgendwo zwischen schmerzlich und triumphal. „Ja, junge Frau“, wandte er sich ihr voll zu, „Auferweckung, wie ich lieber sage, das heißt, dass unsere Leute weitergemacht haben. Immer weitergemacht, und davon ließen sie sich auch nicht von der Kirche abbringen. Es ging auch nicht nur um Schulden, aber oft. Eigentlich um Gerechtigkeit überhaupt. Manchmal hat’s geklappt, als wir die Grundbücher in Frankreich verbrannt haben, und manchmal nicht wie bei Thomas Müntzer, aber ein paar haben sich immer gefunden, die weitermachen, manchmal sogar solche, die es gar nicht nötig haben. Heute zum Beispiel wieder, da gibt es ein paar Herren bei Boston Consult, die von Schuldenerlass reden“, er sah auf die Uhr, „oder vom Jubeljahr, wie wir damals sagten. Aber jetzt muss ich leider gehen, ich habe zu tun.“ Und damit war er weg.
„Eine bizarre Erscheinung. Kanntest du den?“, fragte meine Freundin und schlug ihren Kragen hoch. „Nein“, sagte ich, und dann, weiß Gott warum: „Doch.“