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Archiv-Artikel

Demagogen gegen Demagogen

Die französische Volksabstimmung über die Europäische Verfassung war eine große Chance für die direkte Demokratie. Aber sie wurde vertan

VON CHRISTIAN RATH

Welch ein Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland. 55 Prozent der Franzosen stimmten nach einer wochenlangen erbitterten Auseinandersetzung gegen die EU-Verfassung, während in Deutschland die Ratifizierung glatt, ja fast geräuschlos über die Bühne ging: 95 Prozent Jastimmen im Bundestag, einstimmiges Ja bei einer Enthaltung im Bundesrat. Das Volk machte den Unterschied.

Und das französische Non war kein Zufallsergebnis. Die Umfragen sahen es seit Wochen voraus, die Wahlbeteiligung war mit rund 70 Prozent beeindruckend hoch. Die Franzosen haben auch nicht blind über das komplizierte Vertragswerk abgestimmt. Jeder der 41,5 Millionen Wahlberechtigten hatte den Verfassungstext erhalten. Überall – in den Medien, den Gemeindesälen, auf der Straße – wurde über die Entscheidung diskutiert. Die Befürworter von Volksabstimmungen sehen sich bestätigt: die direkte Demokratie macht das Volk auch bei schwierigen Fragen zu Experten.

Dennoch bleibt nach diesem Referendum ein großes Unbehagen. Denn die beeindruckende Anteilnahme der Bevölkerung wurde teuer erkauft, mit viel Halbwahrheiten und groben Verzerrungen. Es genügt eben nicht, den Verfassungsvertrag zu lesen, man muss seine Bedeutung auch richtig einschätzen können. Und das ist schwer, wenn beide Seiten der Kampagne mit haarsträubenden Dramatisierungen arbeiten. So gesehen hat das Referendum auch alle Schwächen der direkten Demokratie offen gelegt.

Die EU-Verfassung zielt eben nicht darauf ab, aus der EU ein einseitig militaristisches und neoliberales Projekt zu machen, wie es das Non-Lager behauptet. Und zugleich war auch die Warnung der Befürworter völlig überzogen, dass die erweiterte EU nur mit der neuen Verfassung handlungsfähig sei. In ihrer Demagogie waren sich beide Seiten ebenbürtig.

Dabei ist der Verfassunsvertrag eine eher harmlose, wenn auch nicht belanglose Sammlung von Änderungen der europäischen Strukturen. Das Europäische Parlament wäre aufgewertet worden, im Ministerrat sollte häufiger mit Mehrheit abgestimmt werden, die EU hätte einen Außenminister und einen geschriebenen Grundrechtskatalog erhalten (ausführlich in der taz vom 6. Mai).

Wenn sich die Auseinandersetzung auf die wirklichen Neuerungen konzentriert hätte, wären wohl nur 35 Prozent der Franzosen an die Urne gegangen und hätten zu 80 Prozent mit Ja gestimmt. Eigentlich war es unnötig, diesen Vertrag einer Volksabstimmung zu unterwerfen. Erst die künstliche Aufregung hat die Verfassung zu einer Schicksalsfrage gemacht. Denn auch nach dem voraussichtlichen Scheitern der Verfassung geht das europäische Leben weiter. Es ist ja noch alles da. Der Binnenmarkt, die Währungsunion, die EU-Erweiterung. Auch die EU-Institutionen – Rat, Kommission, Parlament und Gerichtshof – sind arbeitsfähig und haben umfassende Kompetenzen. De facto hatte die EU schon immer eine Verfassung, die aus völkerrechtlichen Verträgen bestand. Gescheitert ist nun nur die Umbenennung und Modernisierung dieser Verträge unter dem etwas hochtrabenden Namen „EU-Verfassung“.

Auch die linken Verfassungsgegner werden feststellen, dass alles noch vorhanden ist, was sie der Verfassung anlasten: die EU-Verteidigungspolitik, die Rüstungsagentur, das Ziel des „freien Wettbewerbs“ und die Gefahr für nationale Monopolbetriebe. Die EU war eben noch nie ein pazifistisches oder sozialistisches Projekt. Aber sie war schon immer ein Projekt, um das zu kämpfen sich für die Linke lohnte . Denn nur die Schaffung eines starken und erfolgreichen Binnenmarkts mit akzeptablen sozialen und ökologischen Standards sichert die Chance, das europäische Sozialmodell auf dem Weltmarkt zu verteidigen.

Indem die linke Non-Kampagne völlig einseitig die Risiken der EU-Integration betonte und die Chancen ausblendete, hat sie zwar ihren eigenen Sieg gesichert, möglicherweise aber zugleich den rückwärts gewandten Nationalismus der Rechten gestärkt. Das aber ist nicht der direkten Demokratie anzulasten. Ein Referendum ist eine Chance, dass die Menschen klüger werden, es ist keine Garantie.