Zucker im Blut

ERNÄHRUNG Die Diagnose Diabetes verändert schlagartig den Alltag der Betroffenen. Im Diabetes Zentrum Hamburg-Wandsbek lernen sie, mit der Krankheit zu leben. Ein Erfahrungsbericht

Interdisziplinäres Arbeiten zwischen Hausärzten und Fachärzten fordern Experten, wie der Leiter des Hamburger Diabetes Zentrums Jörg von Hübbenet. Neue Patienten würden meist kommentarlos an die Spezialisten überstellt werden. Eine zentrale Datenbank mit Patienteninformationen könnte helfen, ist aus Datenschutzrechtlichen Gründen allerdings schwer realisierbar.

■ Schon jetzt ist mehr als jeder zehnte Deutsche Diabetiker, exklusive einer Dunkelziffer, die nach Verbandsschätzungen ebenfalls in die Millionen gehen könnte. Viele merken nicht, dass sie betroffen sind, bis der Körper die Insulinproduktion dann einstellt oder eine Insulinresistenz entwickelt. Dann treten erste Symptome einer Unterzuckerung auf.

■ Der Insulinbedarf steigt von Jahr zu Jahr, begünstigt durch die demographische Entwicklung. Seit der Gesundheitsreform wälzen die gesetzlichen Krankenkassen die enormen Kosten teilweise auf die Patienten ab. JV

VON JOSEPH VARSCHEN

Erst vor einer Woche hat der Hamburger Alex Kästner (Name geändert) erfahren, dass er krank ist. Von einem Tag auf den anderen plagten ihn Sehstörungen, er fühlte sich antriebslos, unkonzentriert und hatte unstillbaren Durst. Bevor er sich Rat von einem Experten holte, googlete der 37-Jährige seine Symptome und wurde fündig. Ein Arzt bestätigte die Internetdiagnose: Alex Kästner ist Typ 1-Diabetiker.

Von nun an ist die externe Insulinzufuhr für Kästner lebenswichtig. Seine Bauchspeicheldrüse hat die körpereigene Insulinproduktion eingestellt. Die meisten Zuckerkranken haben Diabetes vom Typ 2. Im Gegensatz zum genetisch bedingten Typ 1 wird dieser durch die eigene Lebensweise ausgelöst: Wenig Bewegung und eine ungesunde Ernährung mit zu viel Zucker, Weißmehl und Fett.

Um mit der Krankheit leben zu lernen, besucht Kästner einen Einsteigerkurs für Diabetiker im dritten Stock des Diabetes Zentrums in Hamburg-Wandsbek. Er und acht weitere Betroffene unterschiedlichen Alters sitzen in einer Runde zusammen. Hinter der Gruppe steht ein kleines Buffet. Es gibt Bananen, stilles Wasser und Kaffee – mit Süßstoff. Alex Kästner und seine Leidensgenossen schauen zur Tafel. Dort steht die Diabetes-Beraterin Nicole Huck im weißen Arztkittel: „Heute wollen wir Diabetes verstehen und lernen, sich richtig zu ernähren.“ Ziel der Einführung sei es, selbstständig mit der Krankheit umgehen zu können.

Huck notiert sich die Krankengeschichten der Patienten. Zwei hatten Bauchspeicheldrüsenkrebs und wurden auf diese Weise insulinpflichtig. Bis auf Kästner haben alle Teilnehmer den Diabetes-Typ 2 – die so genannte Altersdiabetes. Mittlerweile besuchen aber sogar schon Zwölfjährige den Einsteigerkurs des Diabetes-Zentrums.

„Diabetes ist eine Schichtenkrankheit“, sagt Jörg von Hübbenet, Leiter des Diabetes Zentrums. Besonders sozial schwächere Menschen seien davon betroffen. Denn die würden sich vor allem von „kompakter und schneller Nahrung“ ernähren. Bei den heutigen Obst- und Gemüsepreisen hätten Ärmere es schwer, sich ausgewogen zu ernähren. Deshalb lösten Fettleibigkeit und Bewegungsmangel Diabetes bereits im Kindesalter aus, sagt von Hübbenet.

Etwa acht Millionen Menschen in Deutschland gehören der Gruppe der Typ 2-Diabetiker an. Experten warnen bereits mit Blick auf die demographische Entwicklung vor einem Super-Gau im deutschen Gesundheitssystem. Die Kosten für künstlich produziertes Insulin machen bereits einen Großteil der Gesamtausgaben der Kassen aus. Ein überzeugendes Versorgungsmodell für die Zukunft gibt es vorerst nicht.

Doch die Neukranken im Diabetes Zentrum Wandsbek beschäftigen momentan ganz andere Dinge: Nicole Huck legt die nächste Folie auf den Overheadprojektor. Der Satz „Was passiert mit dem Zucker im Körper“ erscheint an der Wand. Das Insulin ist als Schlüssel dargestellt, der die Körperzellen öffnet, damit diese den im Blut gelösten Zucker aufnehmen können. Diabetiker produzieren aber nur wenig oder gar kein Insulin. Der Zucker, der über die Nahrung aufgenommen wird, gelangt nicht in die Zelle, sondern bleibt im Blut. Dadurch steigt der Blutzuckerspiegel.

Mittlerweile besuchen sogar schon Zwölfjährige den Einsteigerkurs des Diabetes Zentrums in Wandsbek

Kästner atmet schwer auf. Er hat Hunger. Die Diabetesberaterin Huck schlägt ihm vor, sich eine Banane vom Buffet zu nehmen. „Ich hab‘ jetzt keine Lust zu rechnen und zu spritzen“, sagt Kästner. Er habe morgens keine Zwischenmahlzeit in seiner Dosierung mit einberechnet. „Der Verzicht auf Spontanität“, sagt Kästner, mache ihm besonders zu schaffen. Man könne nicht „einfach mal so ein Eis essen“ oder einen Kurztrip ins Ausland machen ohne genau zu kalkulieren, was der Körper braucht. Der Alltag drehe sich nur noch um Broteinheiten, Verzögerungs- und Langzeitinsulin.

„In den Köpfen der Patienten spielt sich mit der Krankheit ein nahezu schizophrener Kontrollmechanismus ab“, sagt Zentrumsleiter von Hübbenet. Sie stellten sich die immer gleichen Fragen: Fühle ich mich jetzt normal? Bin ich gerade unterzuckert oder überzuckert? Einer seiner Patienten, ein Kapitän zur See, hatte stets einwandfreie Werte. Auf die Frage wie er das mache, sagte er: „Mit Diabetes durchs Leben gehen ist wie eine Schifffahrt nach New York. Man muss alle Einflüsse der Außenwelt mit einberechnen: die Meeresströmung, den Wind und das Wetter, dann kommt man auch sicher ans Ziel.“

Mit dieser neuen Welt der Zahlen, die mit der Krankheit verbunden ist, tut sich Kästner hingegen noch schwer. In der vergangen Woche habe er fast vor jeder Mahlzeit in der Praxis angerufen und um Rat gefragt. „Ich hoffe nur, dass ich trotzdem alt werde“, sagt er mit zaghaft fragendem Unterton. „Aber natürlich“, beruhigt ihn Nicole Huck.

Sie macht den Projektor aus und fragt in die Runde, ob alle verstanden hätten, was Diabetes ist. Alle nicken. „Dann machen wir jetzt Mittagspause.“ Wie auf Kommando verschwinden die Kursteilnehmer mit ihren Insulin-Etuis in ein angrenzendes Bad.