: Wider die Besinnlichkeit
von Ulrich Gutmair
Kann sich noch jemand an die Ravende Gesellschaft erinnern? Das war Jürgen Laarmanns Versuch, die Raveolution zum politischen Projekt einer ganzen Generation und den Dancefloor zum utopischen Ort zu stilisieren. Man lächelte damals zwar drüber, aber so ganz falsch war die Idee nicht.
Techno nannte man das fröhliche Nebeneinander von Unternehmertum und Freigiebigkeit, einer Geschenkökonomie, in der Wasser, Tüten und Pillen brüderlich geteilt wurden. Auf den Klos des Berghain legen fontänenartige Wasserhähne davon heute noch Zeugnis ab. An ihnen können sich durstige Tänzerinnen wie an Dionysos’ Quellen laben.
Und sind auf dem Tanzboden nicht alle gleich? Der DJ ist zwar ein Zeremonienmeister, ein lächelnder Schamane. Doch seinen Platz am Pult kann jeder einnehmen. Die Ravende Gesellschaft, schrieb schon Walter Benjamin, starrt nicht auf eine Bühne, sondern zwinkert ihren Mitreisenden zu. Nun aber sind im Zuge der Renaissance bürgerlicher Werte Frontalunterricht und Andacht als reguläre Rezeptionsweisen zurückgekehrt.
Letztens etwa in der „Remise“, die ihre echte Remise in den heißen Tagen gegen die Holzbohlen vor dem Maria am Ufer eingetauscht hat. Dort war es heimelig und lau, die Spree plätscherte. Jochen Arbeit stapelte den Klang seiner Gitarre mit einer Unzahl von Effektgeräten und Gadgets zu einer neokrautrockmäßigen, an Techno gemahnenden, psychedelischen Wall of Sound. Die beste Musik, um entspannt zu plaudern. Oh alter Raver, wie hast du dich getäuscht: Jede Bewegung wurde vom besinnlich lauschenden Publikum mit leisem Erstaunen, jedes Im-Wege-Stehen oder gar Sprechen von Kunstverehrern mit missbilligendem Augenrollen geahndet. Das konnte den schwingenden Genuss des folgenden, höchst charmanten Gigs von Robert Lippok aber nicht verhindern.
Der knipste gegen Ende der Performance das Kontaktmikro von seiner Zither ab, um es an Bruder Baum zu hängen, auf den er sodann zärtlich trommelte. Das machte Spaß und war erhebend. Fehlte nur die Bassdrum, um die Gemeinde wachzuschütteln. Besinnlichkeit heißt die Pest der späten Nullerjahre.