Bitte leichte Sprache

Ausflug in den Bundestag: Eingeladen von ihrer sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten spazieren Mädchen aus Lübeck durch den Reichstag, winken vorbeifahrenden Schiffen und essen vegetarisch in der schönen Kantine

Die jungen Mädchen standen am Nordeingang des Bundestages. Sie gehörten zu „Mixed Pickles“, einem Lübecker Verein von behinderten und nicht behinderten Frauen und Mädchen, die nicht über sich bestimmen lassen wollen, sondern selbst Verantwortung für sich und andere übernehmen wollen. Einige der zehn Mädchen hatten neulich den „Juleica“ (Jugendleiter-Card) gemacht. Dass auch geistige Behinderte eine solche Qualifikation erwerben können, gibt’s nur in Schleswig-Holstein.

Nun waren sie jedenfalls auf Einladung ihrer Bundestagsabgeordneten Gabi Hiller-Ohm mit zwei Kleinbussen nach Berlin gekommen, um sich den Bundestag anzuschauen. „Schade, dass wir unsere Schilder vergessen haben“, sagte eins der Mädchen. Auf den Schildern steht „HALT! Bitte leichte Sprache“. Diese Schilder halten sie immer hoch, wenn ihnen die Sprache zu kompliziert wird. Dann kam Herr Lutz vom Besucherdienst des Bundestags. Er hatte einen grauen Bart und wies gleich zu Anfang stolz auf eins der Highlights der politischen Machtzentrale hin: die tollen Toiletten. Die sollten sich die Mädchen einmal anschauen. Einige taten das auch, schienen aber nicht wirklich beeindruckt. 3,4 Millionen Einwohner hat Berlin, erklärte Herr Lutz stolz. Ganz schön viel! Lübeck dagegen hat nur 200.000 Einwohner. Außerdem sind die Häuser in Berlin höher und die Straßen breiter als in der Hansestadt.

Später wurden vor allem Kunstwerke erklärt. Zum Beispiel die Nagel-Bilder von Herrn Uecker, der den Andachtsraum des Bundestages gestaltet hat. Jeweils 20 Minuten vor den Sitzungen gibt es hier evangelische oder katholische Andachten. Für Muslime lassen sich auch Gebetsteppiche hinlegen, der Raum ist quasi multireligiös. Ob dies Angebot von den im Allgemeinen doch eher diesseitig orientierten Politikern auch genutzt werde? – Wohl nicht so richtig. „Ist wie im richtigen Leben“, lächelte Herr Lutz, „gucken Sie mal sonntags in die Kirche …“

Dann ging es in den schönen hohen „Clubraum“ des Bundestags. Das ist eine Bar, in der die Abgeordneten nach der Sitzung noch schnell ein Bierchen hätten zischen können, wenn sie die Bar denn angenommen hätten. Was nicht der Fall war. Hinter dem Tresen hängen ikonenhafte Bilder eines russischen Künstlers. Im nächsten Raum, einer Art Lobby, erinnert ein großes, fünfteiliges Fotogemälde von Katharina Sieverding an die verfolgten und ermordeten Mitglieder des Reichstags der Weimarer Republik. Wenn man Acht gibt, erkennt man, dass es auf dem Bild keine anderen Farben als Schwarz, Rot und Gold gibt. Herr Lutz erklärt, dass man eine Sonnenkorona, ein Rückgrat und eine innere Krankheit auf dem Bild sehen könnte. Dafür muss man allerdings sehr genau hingucken.

Dann geht es in den eigentlichen Bundestag. Jeden Donnerstag gibt es hier „Open-End“-Sitzungen, die manchmal bis 3.15 Uhr dauern und ohne Eintritt besucht werden können. Die, die kommen, müssen aber immer ganz leise sein und nicht so unhöflich wie der berühmte Kirchenstörer Herr Roy, den Herr Lutz einmal versehentlich eingelassen hatte. Der kräftige Radaubruder hätte dann Flugblätter mit „religiösem Dingdong“ auf die Abgeordneten runtergeworfen. „Und was machen die Abgeordneten, wenn sie auf Toilette müssen?“ – Sie stehen leise auf und gehen dahin.

„Und jetzt wäre ich für ein staatstragendes Foto. Mit dem Adler im Hintergrund.“ Später wurde die Gruppe von der Lübecker Bundstagsabgeordneten Gabi Hiller-Ohm begrüßt. Die Sozialdemokratin hat rot gefärbte Haare, kümmert sich viel um den Wald und ist oft „ganz schön aufgeregt“, wenn sie eine Rede halten soll. Sie war extra für „Mixed-Pickles“ nach Berlin gekommen. Neben ihrem Büro gibt es einen Liegeraum für müde Abgeordnete, der nur selten benutzt wird. Dann wurde wieder ein Foto gemacht. Manchmal hielten die jungen Mädchen einander an den Händen. Am besten gefiel es ihnen, von einer kleinen Brücke zwischen zwei Regierungsgebäuden hinunterzugucken oder den Menschen in den vorbeifahrenden Stadtbesichtigungsschiffen zuzuwinken. In der schönen Kantine aßen die meisten vegetarisch. Dann fuhren sie wieder nach Hause.

DETLEF KUHLBRODT