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Archiv-Artikel

Erst Schoko, dann Gold

ZUCKER Vormittags backt Ion Flutsch Süßes in einer Pasticceria in Carrara. Und nachmittags füllt er als Arzt die Zähne seiner Patienten. Ganz ohne schlechtes Gewissen?

Er schwärmt von den Pinienkernen aus Pisa und der Erlesenheit tahitischer Vanille

AUS CARRARA ROBERT ZSOLNAY (TEXT) UND FRANCESCO MERLINI (FOTOS)

Dottore Ion Flutsch tritt aus der Backstube und bebt vor Wut. Er will jetzt nicht reden, er weiß nichts von dem Treffen, schon wieder hat seine Schwester Entscheidungen über seinen Kopf hinweg getroffen. „No, assolutamente no!“ – er habe jetzt keinerlei Interesse an einem Gespräch, sagt der Konditor, der gemeinsam mit seiner Schwester die Pasticceria Caflisch leitet. Im toskanischen Carrara, hundert Kilometer von Florenz entfernt.

An den kräftigen Händen des Pasticciere kleben Teigkrümel, er gestikuliert, als wolle er jedes seiner lauten Worte mit einem Ausrufezeichen versehen. Eine grüne Haube bändigt seine schwarzen Locken, Mehlstaub bleicht die Schürze und den Mundschutz, der an der Brust baumelt. Putzig sieht er aus, wie er geschüttelt wird von seinem Wutanfall, aber auch bedrohlich. Er ist ein stämmiger Mann, fast zwei Meter groß, und er ist jetzt wütend.

Flutsch ist stadtbekannt. Vormittags macht er Füllungen aus Schokolade und Vanillecreme, nachmittags sind sie aus Amalgam und Gold. Seit dreißig Jahren arbeitet der 62-Jährige in dem Städtchen als Konditor und Zahnarzt.

Immerhin dauert der Wutanfall nicht lange. Ständig treffe seine Schwester Trudi eigenmächtige Entscheidungen, klagt er, nachdem sich sein Zorn gelegt hat. Er erzählt das im Büro des Caflisch, das mit seiner Holztheke aus der Belle Époque eine lange Tradition als Familienbetrieb hat.

Die Pasticceria liegt im Herzen der Stadt gegenüber der Piazza Gramsci, wo die altehrwürdige Accademia di Belle Arti steht und das Denkmal für den Anarchisten Alberto Meschi. Die gefährliche Knochenarbeit der Cavatori, der Arbeiter in den Marmorsteinbrüchen, machte Carrara im 19. Jahrhundert zu einer Hochburg der Arbeiterbewegung, 1968 schlossen sich hier die regionalen anarchistischen Föderationen zusammen.

Whiskey von 1950

Stolz zeigen die Geschwister Ion und Trudi im Caflisch auf einen Richter, der gerade im Laden steht. Er war es, der die wenigen, aber mächtigen Marmorbarone der Stadt 2008 dazu verurteilte, sich an den Kosten einer neuen Umgehungsstraße zu beteiligen. Nicht mehr lange werden die mit weißen Quadern und Geröll beladenen Schwerlaster durchs Zentrum donnern. Jahrelanger Bürgerprotest hatte die Stadtoberen vor mehr als zehn Jahren zum Bau der Straße gedrängt – eine libertinäre Gesinnung, das Eintreten für Selbstbestimmung, prägt bis in die Gegenwart das Leben der Stadt, der es finanziell schon mal besser ging. Zwar künden auf den Plätzen viele Skulpturen von einstigem Glanz, aber das hilft dem letzten in der kommunalen Markthalle verbliebenen Metzger auch nichts, dem es jüngst die Auslage überschwemmte, weil es durchs Dach regnete.

Die große Politik wird im Caflisch konkret. An der Holztheke beratschlagen Dozenten der Kunsthochschule über ihren Espresso-Tässchen, wie sich die diesjährige Bildhauerei-Biennale finanzieren lässt. Der klamme Staat hat die Zuschüsse zusammengestrichen. In Italien ist die öffentliche Hand hoch verschuldet, die privaten Haushalte stehen im europäischen Vergleich noch ganz gut da. Also ist man auf der Suche nach Sponsoren.

Während die Kunstakademie mit der Zeit geht, ist sie in der Pasticceria Caflisch stehen geblieben: auf dem Schreibtisch eine Schreibmaschine Marke „Olivetti Studio 44“ aus den sechziger Jahren, ein Telefon mit Wählscheibe. In den zimmerhohen Regalen: alte Weine und Liköre. Einzig der Whiskey ließe sich wohl noch genießen, scherzt der Chef. Er zeigt auf eine Flasche, die in einer Holzkiste lagert – die Jahreszahl 1950 ist ins Holz gebrannt. „Mein Geburtsjahr“, sagt Flutsch, dessen Großvater aus dem damals armen Schweizer Kanton Graubünden, daher auch der Name: Flutsch, eingewandert war. Die Ladenhüter stammen aus der Zeit, als seine Eltern hier noch das Sagen hatten.

„Dottore, ich komme am Nachmittag zu Ihnen in die Praxis“, ruft ein Kunde aus dem Café durch die offene Tür ins Büro. In solchen Momenten zuckt Flutsch zusammen. Auch mit 62 Jahren ist ihm sein Doppeljob etwas peinlich. Wenn die Schwester Kindern hinter der Theke Bonbons zusteckt, kommentiert er das verärgert: „Jetzt schreitet sie wieder zur Tat.“ Ion Flutsch würde nie Süßigkeiten an Kinder verteilen, aber er nascht gern selbst. „Schleckermaul“ nennt ihn seine Schwester.

„Am Morgen musst du diese Torte backen, am Nachmittag kommt jener Patient für ein Implantat.“ Solche Gedanken gehen ihm abends durch den Kopf, wenn er, dauermüde vom Frühaufstehen und der doppelten Beanspruchung, zeitig zu Bett geht. Wenn Ion Flutsch morgens die Tür zur Backstube aufsperrt, ist es noch tiefe Nacht. Fünf, manchmal sechs Tage in der Woche hievt er im Takt von Mischer, Walze und Ofen medizinballgroße Teigstücke auf den Arbeitstisch aus weißem Marmor, zerteilt sie, knetet, formt Leckereien: Pralinen, Florentiner, Sachertorte, Schwarzwälder Kirsch.

Die Monotonie jahrzehntelang ausgeführter Handgriffe, begleitet vom Rumpeln, Rattern und Klappern der Maschinen, hat ihn geschliffen, und nicht erst seit gestern beschleicht Flutsch der Gedanke, zu verblöden. Dann wischt er ihn wieder weg und schwärmt – eingehüllt in den Duft von kandiertem Mandelsplitter – von den Geschmacksnuancen der Pinienkerne aus Pisa und der Erlesenheit tahitischer Vanille.

Der Duft entströmt dem alten Rinaldi-Backofen, die zwei i-Tüpfelchen des Schriftzugs sind Sterne. Verbunden mit einer dünnen, geschwungenen Linie. Zwei solche Sterne, verbunden mit einer Linie – das sind auch die Geschwister Ion und Trudi.

Mille Foglie aus Blätterteig

Der Familienbetrieb liegt beiden am Herzen, doch es gibt einen gravierenden Unterschied: Gewohnheit nennt der Bruder, was die Schwester als Tradition beschreibt. Für sie ist das Geschäft alles, für ihn sind die Vormittage Pflicht. Die Kür, das sind eher die Nachmittage. Trotzdem haben sie all die Jahre zusammengehalten, wie der Vater es ihnen immer einschärfte. Und so sorgt Ion für volle Vitrinen und trifft die wichtigen Entscheidungen, Trudi leitet den Verkauf.

Flutsch lässt Mandelsplitter über die Mille Foglie aus Blätterteig rieseln, da klopft es an der Tür. Er öffnet einer schlicht gekleideten Frau, die von Schmerzen am geschwollenen Fuß geplagt wird. Der Dottore wäscht sich die Hände und untersucht die Patientin im Vorraum, wo ein kleiner Schreibtisch und Fachbücher mit Pralinenrezepten stehen. Geld verlangt er dafür keines. In der Kleinstadt Carrara wissen die meisten, dass der Pasticciere Arzt ist. Er hat in Pisa Humanmedizin studiert und sich erst nach der Doktorarbeit auf Zahnmedizin spezialisiert. Die Facharztausbildung in Nuklearmedizin brach er ab, weil er es für unverantwortlich hielt, wie am Uniklinikum mit radioaktivem Material hantiert wurde.

Er sei ein scheuer Mensch, erzählt Flutsch, der Arztberuf ermögliche es ihm, mit anderen in Kontakt zu treten. Zwölf Jahre hat es gedauert, bis er sein eigenes Ding machen konnte, eine Praxis eröffnen, sich beruflich selbst verwirklichen. „Zu lange“, sagt er. „Das Caflisch ist für mich Nest und Falle.“

Ein kurzer Mittagsschlaf, in der er vom Konditor zum Zahnarzt wird – und Flutsch, keine zwei Kilometer von der Backstube entfernt, versprüht blendende Laune. Im Wartezimmer bläst der Wind die Vorhänge der offenen Balkontür über den Steinboden. Wartende sinken in ein verschlissenes Ledersofa oder nehmen auf Plastikstühlen Platz. „Hereinspaziert“, begrüßt der Dottore einen jungen Patienten am Nachmittag. Anfangs lief die Praxis „così, così“, so lala, weil ihn die Leute nur als den Konditor aus dem Caflisch kannten. Doch bald hatte er hier wie dort gut zu tun.

Gestenreich doziert er in einer Behandlungspause darüber, welche Bedeutung der Kauapparat für den Körper hat. Und er zeigt „una bellissima poltrona“ – einen alten, hellblau lackierten Behandlungsstuhl, der nun als Kleiderständer dient. Auf diesem Stuhl versorgte er während der zweieinhalbjährigen Hospitanz im Krankenhaus Carrara seine ersten Patienten.

Ein Macho, ein sanfter

Seine Arbeit dort hatte den Vorteil, dass er den Weg zwischen seinen zwei Berufswelten zu Fuß bewältigen konnte. Nach der Morgenschicht ging er über die Piazza Gramsci, vorbei am Anarchistendenkmal weiter zur Piazza Manzoni, wo das Krankenhaus steht. Keine zehn Minuten vom Backblech zum Bohrer. Als er noch in Pisa studierte und danach am Uniklinikum Nuklearmedizin lernte, verließ er die Backstube gegen sieben Uhr und fuhr mit dem Frühzug zur Uni.

„Un po’ di sacrificio“ – ein bisschen Opferbereitschaft sei nötig gewesen, um das Studium und später die Praxis mit der Pasticceria unter einen Hut zu bringen, meint Flutsch. Früher arbeitete er Nächte durch, um Arbeit und Lernen zu bewältigen. Diese eine 36-Stunden-Schicht vergisst er jedenfalls nicht mehr: eine große Bestellung für eine Kommunionsfeier war es, traditionsgemäß am ersten Sonntag nach Ostern, achtzig Kilogramm von jenem, hundert Kilogramm von diesem – wenn er daran denkt, kann er die Erschöpfung spüren.

Süßigkeiten für Kinder? Nein. Aber selbst nascht Ion Flutsch ganz gern

Warum hat er sich die Plackerei über all die Jahre angetan? „Manchmal wünschte ich, wir hätten den Betrieb verkauft, als es noch einen angemessenen Preis dafür gab“, sagt er. Doch offensichtlich war ihm kein Angebot gut genug. Und was wäre im Falle des Verkaufs aus der Schwester geworden? Hätte sie einen Mann gefunden, Kinder bekommen, ihr Leben hätte einen anderen Lauf genommen, mutmaßt der Bruder. Und seines? Er habe trotz mancher Zweifel immer das Gefühl gehabt, das Richtige zu tun, antwortet er. Er ist ein kleiner Macho, aber ein sanfter.

Als Ion Flutsch die Geschäfte seines Vaters im Caflisch übernahm, war er ein 17-jähriger Schüler mit sehr guten Leistungen. Das blieb auch so, als er sich – nach den Unterrichtsstunden – an den sternchenverzierten Rinaldi-Ofen stellte. Unter der Leitung des Vaters kam es häufig zu Engpässen, zu Qualitätsproblemen, weil die Angestellten von einem Tag auf den anderen kündigten. Das wollte der Juniorchef vermeiden. Schließlich sollte die ältere Schwester, die damals in Neuchatel in der französischen Schweiz studierte, in Ruhe ihren Abschluss machen können. Bilder im Familienalbum zeigen den Sohn mit Hemd, Krawatte und Jackett. Den Hut hatte er auf der Straße brav abzunehmen, um zu grüßen. Cristiano Flutsch, der Vater, wollte einen perfekten Geschäftsmann aus dem Sohn machen. Doch der reifte zu einem Mann, dem Äußerlichkeiten und Konventionen nichts bedeuten.

Ursprünglich sollte Ion Flutsch nach dem Abitur in Lausanne studieren. Er sehnte diesen Schritt geradezu herbei – endlich etwas Eigenes, endlich leben. Doch dann brachte er es nicht übers Herz, seinen Vater, der schon kränkelte, alleinzulassen.

Aus Lausanne wurde Pisa. Auch nach mehr als vierzig Jahren erinnert sich der Dottore genau an den Tag, an dem er in den Zug stieg, um sich an der nahen Universität für Physik zu immatrikulieren. Auf dem Bahnsteig traf er eine ehemalige Mitschülerin, die ihm damals sehr gefiel. Die wollte sich fürs Medizinstudium einschreiben. Der heimliche Verehrer reagierte sofort: „Medizin, so ein Zufall. Das mache ich auch!“ Als er am Abend nach Carrara zurückkehrte, trug er ein Gefühl großer Freiheit in sich. Den Vater schockierte es, dass sein Sohn Leichen sezieren, mit Krankheit und Leid zu tun haben sollte.

Urlaub: ein Traum

Im Herrenzimmer seiner Landvilla, die auf einem Ausläufer der Apuanischen Alpen thront, stapeln sich Fachmagazine und Bücher, meist Naturwissenschaftliches und Philosophisches. Draußen, im Garten, steht eine Skulptur, mit der ein Bildhauer einmal Flutschs Zahnbehandlung gezahlt hat. Dahinter Hunderte Olivenbäume, ein verwilderter Weinberg. Unter einer Plane ein rotes Oldtimer-Coupé, daneben ein alter Lamborghini-Traktor. Flutsch sammelt die alten Nutzfahrzeuge, die robust sind wie er selbst, vierzehn hat er schon.

Der Dottore wohnt hier mit seiner ukrainischen Frau Valentina. Seit sechs Jahren sind die beiden verheiratet, sie unterstützt ihn in der Praxis und an hektischen Tagen auch in der Backstube. Zuvor hatte sie seine erste Frau, die vor ihrem Tod viel leiden musste, gepflegt. Auch aus Dankbarkeit dafür hat er Valentina geheiratet. Er habe ihr eine Perspektive in Italien geben wollen, sagt er.

Doch auch für ihn ergeben sich durch die zweite Ehe ungeahnte Möglichkeiten. Denn die beiden angeheirateten Enkel haben Interesse, im Caflisch mitzuarbeiten. „Vielleicht können sie den Betrieb übernehmen.“ Er mag diesen Gedanken, dem er auf der Terrasse mit Blick aufs Ligurische Meer lange nachhängt. Demnächst will er mit seiner Frau in die Ukraine reisen, die Enkel kennenlernen. Wenn sich alles so entwickelt, wie der Dottore das hofft, dann könnte er bald etwas machen, worauf er seit zwanzig Jahren verzichtet: Urlaub.

Doch zunächst führt er seine Frau zum Abendessen aus. „Vestiti bene“, sagt sie. Zieh dir was Schönes an. „Ach was“, sagt Ion Flutsch. „Das passt doch.“

Robert Zsolnay, 46, schreibt für Magazine und empfiehlt Flutschs Interpretation der Sachertorte