piwik no script img

Archiv-Artikel

Du hast die Wahl

VERANTWORTUNG Welchen Preis hat Moral? Janne Tellers kleiner Roman „Komm“

VON BARBARA WEITZEL

Mit ihren Fußspuren fängt es an, und am Ende sind sie immer noch da. Auch wenn der immerzu rieselnde Schnee sie verdeckt hat. Ein bedeutungssattes, hypnotisches Motiv sind diese Fußspuren, sie sprechen unaufhörlich in dieser einen langen Nacht des Romans „Komm“. Sie sprechen von vielem, was die Autorin Janne Teller beschäftigt. Sie sagen: Alles, was du tust oder auch nicht tust, hinterlässt eine Spur in der Welt. Spuren bleiben. Alles hat Folgen.

Das erfährt der Erzähler in „Komm“, ein Verleger, der sich eine Nacht mit einer schweren Entscheidung herumschlägt. Er sitzt allein in seinem Verlag. Draußen schneit die Welt zu, und eigentlich sollte er einen Vortrag über Literatur und Moral schreiben. Eigentlich sollte er auch seine Frau, eine angesehene Politikerin, zu einem Abendessen begleiten. Eigentlich – könnte sein Leben an diesem Abend in seinen glatten und erfolgreichen Bahnen verlaufen. Wäre da nicht dieses Buch. Ein gefeierter Jungautor hat es geschrieben, und es steht kurz vor dem Druck. Das Buch handelt von einer jungen Europäerin, die in Afrika arbeitet und der dort Furchtbares widerfährt. Alles ist darin, was ein Bestseller braucht. Schicksal. Gewalt. Politik. Sex. Ferne. Authentizität.

Diese Authentizität wird nun für den Verleger zur Hölle. Denn die junge Frau gibt es wirklich, sie heißt Petra Vinter, und sie sagt: „Es ist meine Geschichte.“ Der Autor habe sie geklaut, obwohl er ihr versprochen hat, sie nicht zu veröffentlichen. Der Verleger wimmelt sie ab, schüttelt sie ab – doch auch als sie schon lange fort ist, kommt Petra Vinter immer wieder. „Du hast die Wahl“, sagt sie. Dieser Satz verfolgt den Verleger wie ein Mantra. Schleicht sich in seine Rede, lässt Erinnerungen auferstehen, martert den eben noch Selbstgewissen, bis er schreit. Dieser Satz lässt den Verleger sein Leben zerpflücken, seine Ehe zerfetzen. Der Verleger verflucht die Sprecherin dieses Satzes und meint damit sich selbst. „Idiotin“ schilt er sie, und dann wieder sich: „Idiot“.

Die Nacht und der Schnee ziehen sich um ihn zusammen. Der Leser wird Teilnehmer eines beklemmenden Kammerspiels, in dessen Verlauf der Erzähler jeden Boden verliert. „Unaufhörlich schwebt der Schnee durch die Dunkelheit und die Lichtfelder der Straßenlaternen und der Fenster gegenüber. Das ist seine Welt, aber plötzlich kommt es ihm vor, als wäre es doch nicht seine Welt. Er muss eine Rede schreiben. Hat das Universum verschiedene Regeln für verschiedene Personen?“

Das Problem des Verlegers entpuppt sich als ein universelles Dilemma. Es geht um Rendite und Verantwortung. Welchen Preis hat Moral? Das hier, auch so kann man den Titel lesen, geht alle an. Und der Leser kommt mit. Teller kreist ihn ein, verstrickt ihn mit unaufdringlicher, poetischer Eleganz. Sie erreicht das, wie in ihren vorigen Büchern auch, indem sie unsere innere Stimme weckt, jene, welche die unbequemen Fragen stellt. Fragen, auf die sie selbst keine Antworten hat. Hoffnungen ja. Aber kein Rezept.

Wie auch. Die 1964 in Kopenhagen geborene Autorin war in ihrem früheren Leben UN-Botschafterin und Konfliktberaterin der EU. In Tansania und Mosambik, in Bangladesch und auf dem Balkan hat die studierte Makroökonomin gelebt und gearbeitet. Aus solchen Ländern bringt man kein Rezept mit. Und keine fertigen Geschichten. Die Erfahrungen in den Kriegs- und Krisengebieten der Welt fließen zwar seit 2002 in ihre schriftstellerische Arbeit ein, jedoch ohne dass sie direkt darüber schreiben würde. Denn Janne Teller will nicht einfach erzählen, sondern herausfinden. Brutal, doch voller Optimismus. Sie versetzt uns in die Rolle des Flüchtlings, wie in „Krieg“, das in Deutschland im vergangenen Jahr erschien. Oder fragt nach dem Sinn des Lebens, wie in dem Jugendroman „Nichts. Was im Leben wichtig ist“, der sie in ganz Europa bekannt machte. „Nichts“ wurde in Teilen Dänemarks nach seinem Erscheinen zunächst verboten. Zu brutal für ein Jugendbuch, hieß es. Heute steht es in den Lehrplänen. Brutal ist nicht das Buch, sondern das Leben. Und Kinder können brutal werden, wenn man sie damit allein lässt.

Am Ende sind Petra Vinters Spuren nicht mehr mit dem Auge erkennbar. Doch das ist auch nicht mehr nötig. Petra Vinter ist zu einer inneren Stimme geworden, eine, die wir alle in uns haben, davon ist Janne Teller überzeugt. Eine lästige Stimme, eine, die uns auffordert, aus unseren Lieblingsschuhen zu schlüpfen und eine andere Sicht einzunehmen. So, sagt Teller, schreibe sie. Das mache sie frei. Frei von der eigenen Empfindsamkeit und für die wichtigen Fragen, die brutalen. Wie wollen wir leben und wofür? Für den Gewinn, fürs Erstersein? Ist eine Figur wie Petra Vinter wirklich nur der lächerliche Gutmensch in uns oder vielleicht doch notwendig? Wohin steuern wir, wenn wir uns vom anderen abgrenzen, in vielen Bereichen des Lebens aber keine Grenzen mehr akzeptieren wollen? Fragen, für die man aus den eigenen Schuhen schlüpfen muss. Spuren hinterlässt man dennoch.

Janne Teller: „Komm“. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Hanser, München 2012, 160 Seiten, 16,90 Euro