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Künstliche Spannungszufuhr

Belgiens höchste Fußballliga ist gewiss nicht die stärkste auf dem Kontinent. Die spannendste könnte sie sehr wohl sein. Das liegt am fast schon verrückten Modus der Meisterrunde

Flinke Fuß­arbeit: Bilal El Khannouss vom KRC Genk läuft Antwerpens Toby Alder­weireld davon Foto: Fo­to: imago/Isosport

Von Tobias Müller

Abgeschlagene Zweitplatzierte europäischer Fußballtabellen wie, sagen wir, der FC Bayern, dürften in diesen Wochen neidisch nach Belgien schielen. Zum Ende der regulären Saison folgt dort nämlich nicht nur eine Meister-runde der besten sechs Teams, diese hat auch noch einen bemerkenswerten Modus: Die bislang erzielten Punkte werden halbiert, die Tordifferenz aufgehoben, alle starten quasi mit null Toren in die zehn Runden.

Dass das Ganze den offi­ziel­len Namen „Playoff 1“ beziehungsweise „Champions Playoff“ trägt, ist natürlich ein Etikettenschwindel, denn es handelt sich eben nicht um ein Play-off-System, sondern um eine Mini­liga unter besonderen Bedingungen. Der radikale Eingriff in den Punktestand bringt die teilnehmenden Klubs oft so nah zusammen, dass es keine Untertreibung ist, von neu gemischten Karten zu sprechen.

Fraglos ist die damit erzeugte Spannung so künstlich wie Bier mit Kirschgeschmack, aber es herrscht eben Spannung. Die aktuelle Meisterschaft ist das beste Beispiel dafür: Nach der regulären Saison lag der wiedererstarkte Traditionsklub Union Saint-Gilloise mit sieben Punkten vor dem Stadtrivalen RSC Anderlecht und 18 vor Meister Antwerpen. Vom sechstplatzierten, dem KRC Genk, trennten ihn gar 23 Punkte. Drei Spieltage später hat nun Anderlecht drei Punkte Vorsprung vor Union. Am Sonntag kommt Ex-Meister Club Brugge zu Besuch, der mit nur noch zwei Punkten Rückstand Dritter ist.

Bei Union, souveräner Tabellenerster seit dem neunten Spieltag, der in der aktuellen Europa-League-Saison immerhin Liverpool besiegte, brennt nun also nach drei Niederlagen der Baum. Ausgerechnet das Jahr, das die Krönung der märchenhaften Rückkehr an die Spitze des belgischen Fußballs werden sollte – nach dem Aufstieg 2021 wurde man in den vergangenen beiden Spielzeiten jeweils Zweiter – droht nun ein Debakel.

Trainer Alexander Blessin findet den Lauf der Dinge „schwierig zu erklären“. Keeper Anthony Moris mahnte nach der jüngsten Niederlage gegen Anderlecht: „Die Saison ist noch lang. Wir dürfen nicht alles, was wir in den letzten Monaten aufgebaut haben, in die Tonne treten.“

Dem Frust und der Unsicherheit im Lager von Union stehen die Euphorie beim einstigen Serienmeister RSC Anderlecht gegenüber, der nach einigen Jahren in der Grauzone erstmals wieder Chancen hat. Auch Club Brugge und sogar Genk sind noch im Rennen. Erneut könnte also die belgische Meisterschaft als Herzschlag-Szenario enden – wie im vergangenen Jahr, als im Lauf des letzten Spieltags Union, Genk und Antwerpen zwischenzeitlich auf Platz eins standen. In der Nachspielzeit entschied Toby Alderweireld, aus der Premier League zurückgekehrter einstiger Verteidiger des Na­tio­nal­teams, das Rennen zu Antwerpens Gunsten.

Dass sich in den benachbarten Ligen Frankreichs, Deutschlands oder der Niederlande zahlreiche An­hän­ge­r*in­nen nach einer solchen Dramatik sehnen, ist unbestritten. In Belgien ist sie freilich aus der Not geboren – wie so einige Phänomene einer Meisterschaft, die seit Langem von windigen Investoren und chronisch klammen Klubs geprägt ist. Wegen großzügiger Regeln für ausländische Spieler hat sie einen Ruf als Sprungbrett vor allem für afrikanische Talente erarbeitet – aber auch den eines Biotops, in dem Berater ihre Geschäfte mit ihnen betreiben und zu übermäßigem Einfluss gelangen können. Zahlreiche Klubs sind aus Fu­sio­nen bankrotter Vorgänger entstanden. Und in Zeiten, in denen allenthalben alkoholfreie Bierfläschchen und Softdrinks auf Pressekonferenzen präsentiert werden, wird die Jupiler Pro League von einem Brauerei­riesen gesponsert.

Das Herzschlag­finale der Vorsaison wird man so schnell wohl nicht vergessen

Insofern sieht man in Belgien auch beispielhaft Versuche, Fußballligen zu reformieren, um ihre Attraktivität zu steigern und höhere Einnahmen zu erzielen. Auf höchstem Niveau wird das Modell einer euro­päi­schen Superliga nach wie vor diskutiert. Regional wird über eine „BeNeLeague“ mit den besten Teams aus den Niederlanden und Belgien nachgedacht. Auch eine gesamtskandinavische Meisterschaft stand schon einmal zur Debatte.

Der derzeitige Modus in Belgien, eingeführt 2009, ist Teil eines komplexen Systems, zu dem auch die „Playoffs 2“ im Mittelfeld der Tabelle stehen. Dem Sieger winkt dabei ein „Ticket nach Europa“. Und bei den „Playoffs 3“ geht es um den Abstieg. Die Veränderung ist dabei permanent: Dieses Jahr etwa hat die Meisterrunde sechs Teams, statt wie bislang vier. Von Dauer wird auch dieses Modell wohl nicht sein. Im Frühjahr beraten die Profi­klubs des Landes über eine erneute Änderung. Die acht großen belgischen Klubs plädierten im März dafür, dass die höchste Liga 14 statt 16 Vereine hat. Die Halbierung der Punktzahl für die Playoffs soll auch fallen. Bei vielen Fans gilt diese ohnehin als gewinnorientierte Wettbewerbsverzerrung. Den Anhängern von Anderlecht wäre das im Erfolgsfall wohl egal.

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