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Archiv-Artikel

„Kritik ist immer etwas Positives“

REALITÄT ODER WUNSCHDENKEN Occupy Hamburg wird sechs Monate alt. Der Besetzer Stephan hat der Kälte getrotzt und einem Orkan. Sein altes Leben vermisst er nicht, aber von einer anderen Welt träumt er – auf dem Land, mit Frau und Kindern

Stephan

■ 27, ist Soziologiestudent und Mitbegründer der Occupy-Bewegung in Hamburg. Er nimmt sich zurzeit ein Urlaubssemester und hat gelernt, sich auf die einfachen Dinge zu besinnen.

INTERVIEW GRETA KÖHLER

taz: Stephan, mischst Du Dich gern ein?

Stephan: Sehr gern. Sobald irgendetwas ungerecht ist, erhebe ich die Stimme. Wir leben in einer Demokratie. Es ist quasi Pflicht, wenn Unrecht passiert, etwas dagegen zu machen.

Kommst Du aus einer Aktivistenfamilie?

Eher im Gegenteil, aber mein Vater ist politisch sehr interessiert und hat sich immer über die Politiker aufgeregt. Meine Mutter ist dagegen politisch eher uninteressiert. Sie sagt oft, „man kann es ja eh nicht ändern“ oder „die da oben machen eh, was sie wollen“. Aber sie hat ein sehr großes Herz. Als kleines Kind wusste ich überhaupt nicht, dass es Demos gibt. Das habe ich erst später erfahren. Mir hat aber die Demokultur nicht gefallen, nur von A nach B zu gehen, da kurz seinen Protest kundzutun und dann wieder nach Hause zu gehen.

Was sagen Deine Eltern zu Occupy?

Die glauben nicht daran, dass es so einen starken Erfolg haben wird, aber die Zeit wird zeigen, ob ich Recht habe oder meine Mutter.

Und Deine Freunde?

Die befürworten und unterstützen es, soweit es geht. Hier übernachtet haben sie noch nicht, aber ganz langsam begreifen sie auch, was passiert und dass es die Möglichkeit gibt, sich aktiv zu beteiligen.

Wie bist Du aufgewachsen?

Wohlbehütet mit viel Zuneigung, Verantwortung und Eigenständigkeit. Ich hatte eine sehr schöne Kindheit mit liebevollen Eltern. Meine Eltern sind getrennt und haben beide neue Partner – zwei sehr herzliche Menschen, die sich meine Eltern ausgesucht haben. Ich bin in Hamburg geboren und groß geworden – die ersten Jahre in Wilhelmsburg. Das hat mir sehr dabei geholfen andere Kulturen kennenzulernen und Akzeptanz und Toleranz zu entwickeln. Das Temperament eines Südländers gepaart mit der Coolness eines Norwegers – fand ich schön. Man kannte es nicht anders, wieso sollte man also etwas dagegen haben.

Wie ging es weiter?

Ich habe mehrere Ausbildungen gemacht. Ein paar habe ich abgebrochen, dann aber auch eine zu Ende durchgezogen – Kaufmann im Einzelhandel, Fachrichtung Tabak. Also sehr imperialistisch. Ich habe aber damals gelernt, wie es sein kann, wenn Anbaubedingungen herrschen, die Menschen nicht ausbeuten. Damals wurde noch die Handarbeit höher bewertet als die maschinelle Anfertigung von Zigaretten. Das hat mir schon gefallen, dass man das honoriert hat. Jetzt studiere ich Soziologie.

Wie ist ein Studium mit Occupy zu vereinbaren?

Ich habe ein Urlaubssemester und werde wahrscheinlich noch eines nehmen. Ich werde mich hier so lange beteiligen, bis wir gewonnen haben, bis es entweder einen Bewusstseinswandel gibt oder einzelne politische Organe endlich wieder die Macht haben, Sachen zu verändern. Bis sie wieder frei entscheiden gegen die Lobbyarbeit, gegen das korrupte System – für den Menschen und nicht für Unternehmen.

Was hat sich für Dich persönlich verändert?

Eigentlich nicht so viel. Ich war früher mehr feiern. Das hat stark nachgelassen. Man hat gar keine Lust mehr, sich sinnlos in irgendwelchen Bars zu betrinken. Das scheint jetzt so unwichtig. Lieber ist man woanders, um sich auszutauschen und zu unterhalten. Hier werden keine Drogen oder Alkohol konsumiert. Das heißt, wir sind hier durchgehend ziemlich fit und sobald man Alkohol konsumiert oder Drogen nimmt, stellt man sich auf Standby.

Was meinst Du mit Standby?

Sobald man Alkohol getrunken hat, verändert sich die Wahrnehmung, das Bewusstsein. Die rhetorischen Fähigkeiten werden herabgesetzt. Ich bin gern wach, weil man mehr mitbekommt.

Hältst Du Kontakt zu Deinen alten Freunden?

Das ist enorm wichtig. Nur weil man sich aktiv hieran beteiligt, heißt das ja nicht, dass man nicht mehr die Freunde sieht, die man vorher auch schon hatte. Man lernt sie sogar mehr zu schätzen. Man freut sich darüber, dass es den Anderen gibt, dass es ihm gut geht. Ich versuche zwar nicht zu missionieren, aber wenn Themen aktuell sind, versuche ich auch darüber zu diskutieren. Aber es ist auch schön, wenn es mal um ganz normale kleine Probleme geht.

Worum geht es sonst?

Eigentlich nur um Musik. Wenn neue Musikstücke rauskommen, hören wir sie uns gemeinsam an. Dann sitzt man einfach mal ein paar Stunden nebeneinander, raucht Pfeife, trinkt Kaffee oder ein Gläschen Wein und lässt die Musik auf sich wirken. An einem Abend saßen wir zu neunt in einem Raum, haben uns eine Platte angehört und keiner von den neun Menschen hat irgendein Wort gesagt, weil die Musik so füllend war.

Welche Bands hörst Du?

Razorlight, The Hives, Jet, Coldplay ab und zu. Es kommt darauf an. Schon ein bisschen rocklastig.

Was vermisst Du aus Deinem alten Leben?

Gar nichts. Wenn man lange Zeit hier ist, besinnt man sich auf die einfachen Dinge. Alles, was man vorher als Luxus oder selbstverständlich gesehen hat, tritt dann eher in den Hintergrund, zum Beispiel fließendes Wasser. Das tägliche Duschen ist auch nicht nötig. Mir kommt es so vor, als ob die heutige Gesellschaft an einem Punkt angekommen ist, wo es nur noch um Verbrauch geht und nicht um Besinnung und Ruhe. Wir leben in einer so beschleunigten Welt, wo es mal wieder Zeit wird, entschleunigt zu leben.

Hast Du nicht manchmal genug, besonders wenn es so nass und kalt ist wie heute?

Nee, eigentlich hat uns die Zeit bestärkt und zusammenrücken lassen. Als wir minus 17 Grad hatten, war es schon eher ein bisschen komisch festzustellen, dass man nicht abwaschen kann, weil das Spülmittel gefroren ist. Man hat sich quasi ständig in einer Tiefkühltruhe aufgehalten. Das war eine sehr interessante Zeit, die man auf gar keinen Fall missen möchte. Wir haben uns ja stückchenweise an die Kälte gewöhnt.

Hast Du Deine Beteiligung nie infrage gestellt?

Es gab kleinere Momente, wo man kurz das Ganze hinterfragt hat. Einmal, als ein Orkan kam und uns die Küche und den Infopoint zerfetzt hat. Wir hatten innerhalb von ein paar Sekunden nur noch ein paar Igluzelte und haufenweise Schrott. Wir mussten bei Null wieder anfangen. Aber wir hatten schon so lange ausgeharrt und wollten uns nicht alles vom Wetter kaputtmachen lassen.

Ärgert es Dich, wenn andere Occupy als albern oder unsinnig bezeichnen?

Ganz im Gegenteil. In dem Augenblick erlebt man, warum das System so ist, wie es ist. In dem Augenblick, wo Menschen nicht verstehen oder nicht hinterfragen, was wir hier machen, erlebt man immer die Front, gegen die man anarbeitet. Das treibt mich an. Kritik ist immer etwas Positives.

War Dir von Anfang an klar, dass es lange dauern würde?

Gar nicht. Als wir am Freitag angefangen haben, diesen Platz zu besetzen, hatte ich eigentlich nur mit einer Nacht gerechnet. Ich habe gedacht, „ok, netter Spaß, nette Gespräche – wird bestimmt interessant“. Ich habe dann mittags den Platz verlassen und kam abends wieder und rechnete damit, dass nur noch mein Zelt da steht, weil die Anderen keine Lust mehr hatten. Aber das Gegenteil war der Fall. Es waren noch mehr Zelte und noch mehr Menschen da.

Wann ist Dir klar geworden, dass es eine längerfristige Sache ist?

Am darauf folgenden Montag. Die Stimmung war enorm offen, freundlich, herzlich, mit sehr viel Liebe und sehr viel revolutionärem Geist, mit vielen verschiedenen Ansichten – ein durchgewürfelter Haufen von konstruktiven Menschen, die irgendetwas bewegen wollten.

Wie könnte ein Leben für Dich aussehen, wenn Occupy vorbei ist?

Mit einer Frau, fünf Kindern, draußen auf dem Land, vielleicht selbst Essen anbauen, ein funktionierendes Schulsystem. Das wäre schön. Aber es ist noch ein weiter Weg. Es kommt darauf an, was für politische Entscheidungen getroffen werden. Man kann zwar versuchen, sich selbst zu ändern, aber je mehr die Politik anfängt, den einzelnen Menschen zu bevormunden und zu regulieren, desto schwieriger wird es, frei zu leben.

Wird es diese Welt, die Ihr Euch erträumt, irgendwann geben?

Hier, auf diesem Platz, gibt es sie schon.