das wetter: Peinliches Schweigen
Im gesamten Block galt der Frühling als angenehmer, sogar als vorbildlicher Nachbar. Vor dem Aufzug achtete er stets auf Nachzügler, im Treppenhaus trug er der klaustrophoben Frau Jentschek die Einkaufstasche, vor der Haustür streute er Heimkommenden Blüten vor die Füße. Auch der üppige Blumenschmuck auf seinem Balkon fand mehr Bewunderer als Neider. Erst als die Koschieders, die mit dem Frühling Tür an Tür wohnen mussten, auf der Mieterversammlung unter Tränen ihr Schweigen brachen, änderte sich die Stimmung. Plötzlich ergab alles Sinn: die unerklärlichen Hasenplagen im Hausflur, die abrupten Wetterumschwünge in der Waschküche, aber vor allem der sinnliche Freudentaumel, der alle Bewohner bisweilen ergriff und zu sexuellen Ausschweifungen führte, die anderntags peinlich beschwiegen werden mussten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
