kritisch gesehen: „die bitteren tränen einiger ehrlicher erb*innen“ im lichthof, hamburg: Eine wahrhaft berauschende Trauerfeier
Im extravaganten Anzug aus Krawatten tritt Charlotte Pfeifer an das Kopfende der langen Tafel, die im Lichthoftheater aufgestellt ist. Sie breitet die Arme aus, hält inne und wendet sich ans Publikum: „Verehrte Gäste“, jetzt ist sie ganz in der Rolle des Neffen, „das hier ist eine Trauerrede.“ Zumindest nach allen dem Neffen bekannten Informationen. So ganz klar sei nämlich nicht, ob die reiche Großtante, anlässlich deren Ablebens man sich hier versammelt habe, wirklich tot ist. Ihn, den potenziellen Erben, stürzt das in eine Identitätskrise: Wie soll er wissen, wer er ist, wenn er nicht weiß, was er hat?
Die Soloperformance „Die bitteren Tränen einiger ehrlicher Erb*innen“ hat das Kollektiv „Frauen und Fiktion“ als zweiten Teil seiner „Cash Club Trilogie“ geschrieben. In dem greift es auf Elemente aus Fjodor Dostojewskis Roman „Der Spieler“ zurück. Angelehnt daran spielt das Stück zunächst in einer Zeit, in der zum Besitz des Landadels noch Leibeigene gehörten. Die Performance hält sich jedoch nicht daran auf und macht Sprünge in die Gegenwart: Zum Beispiel wirft der Neffe seiner Großtante in einer Videonachricht „Gaslighting“ vor, also dass sie ihm manipulativ eine falsche Vorstellung der Realität eingebe.
Erbe und Erblasserin waren sich nie so nah. Charlotte Pfeifer verkörpert beide überzeugend: den habgierigen Neffen, der Trauer vorgaukelnd immer wieder zu seiner Rede ansetzt, dann die hedonistische Großtante, die im floralen Gewand über den Tisch tanzt, zwischen den Lippen eine E-Zigarette, in der Hand den Schampuskelch. Die Trauerfeier wird zum rauschenden Fest, dem sich das Publikum nicht entziehen kann: Eine vierte Wand gibt es nicht. Die Zuschauer:innen bekommen mit Sekt gefüllte Gläser gereicht, werden Teil einer Trauerfeier, die unerwartet lebensbejahend ist. Nichts wirkt geprobt – und das im besten Sinne.
Die Performance entlarvt kurzweilig und unterhaltsam die Praxis des Erbens als Strategie patriarchalen Machterhalts. Was bleibt von uns, wenn wir nicht mehr sind? Und wer entscheidet darüber? Eine Trauerfeier, die vielleicht gar keine ist, manchmal so rasant gespielt, dass man am liebsten zurückspulen möchte, um die Szene noch einmal anzuschauen. Clara Dünkler
Performance Lichthof, Mendelssohnstraße 15b, Hamburg. Vorstellungen: 15. und 16. 3., 20.15 Uhr, 17. 3., 18 Uhr
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