: Vorläufigkeit als Perspektive
Nach dem Nein zur EU-Verfassung wäre jetzt ein Regelwerk wie das Grundgesetz sinnvoll, das die Union handlungsfähig und die Aussicht auf eine Verfassung offen hält
Nach den Verfasssungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden gilt es, das Nein der Wähler zu verstehen und dieses Verständnis für die Zukunft der EU fruchtbar zu machen. Die falschen Lehren aus den Referenden oder gar ein blindwütiges „Weiter so“ werden sich früher oder später rächen – genau wie es sich nun rächt, die falschen Lehren aus den verschiedenen „Neins“ zu den Verträgen von Maastricht und Nizza gezogen zu haben.
Zwei nahezu entgegengesetzte Interpretationen des doppelten Neins drängen sich auf. Auf der einen Seite werden sich die Technokraten bestätigt fühlen, welche den demokratischen Geist von vornherein lieber in der nationalstaatlichen Flasche gelassen hätten. Die EU, so diese Logik, war stets eine hochkomplexe Konsens- und Kompromissmaschine, die nur von Experten bedient werden kann.
Frei nach Brecht ist man versucht, den Technokraten zuzurufen, sie möchten sich doch andere Völker wählen. Es stimmt zwar, dass die EU in vieler Hinsicht dazu dient, gemeinsam komplexe, transnationale Probleme zu lösen – was nun einmal nicht ohne Expertenwissen geschehen kann und was sich durchaus in Institutionen abspielen darf, die Bürgern nur indirekt verantwortlich sind oder denen Politiker spezifische Aufgaben delegiert haben. Doch sind viele der nicht direkt demokratischen Institutionen, welche in den Augen von Bürgern gemeinsamer Nationalität legitim sind, offenbar nicht automatisch auf EU-Ebene legitim. In Nationalstaaten mögen Bürger etwa unabhängige Zentralbanken akzeptieren, in der EU tun sie dies offenbar nicht ohne weiteres.
Insofern könnten sich nun linke Nationalisten wie der englische Philosoph David Miller bestätigt sehen, welche Vertrauen und Solidarität unauflöslich an den Nationalstaat binden und der EU keine Chance geben, ein wie auch immer geartetes europäisches Sozialmodell zu retten: Denn auch wenn sich die Experten einig wären, wie man das Modell retten könnte, würden die Bürger, getrieben von der Angst vor dem unterbezahlten „polnischen Klempner“, der in den französischen Debatten sprichwörtlich wurde, sich vielleicht doch kein gegenseitiges Vertrauen entgegenbringen.
Ebenso verfehlt wie der Ruf nach den guten alten technokratischen Tagen ist jedoch die Hoffnung, die Volksabstimmungen wiesen nun den Weg in eine EU mit mehr Partizipation und Politisierung „von unten“. Zum einen krankten die Volksabstimmungen grundsätzlich daran, dass sie den Bürgern nicht zwei oder mehr Optionen vorlegten, zwischen denen man vernünftig hätte abwägen können. Das Nein der Franzosen lässt sich nicht in eine alternative Vision von Europa übersetzen, nach der der Sozialist Laurent Fabius Kommissionspräsident und Jean-Marie Le Pen Beauftragter für die Türkei-Erweiterung wäre. Sicherlich sind Franzosen und Niederländer jetzt grosso modo besser über die EU informiert als Bürger in anderen Ländern – aber dass das doppelte Nein sich als eine Art demokratischer Urknall erweisen könnte, ist eher unwahrscheinlich.
Wenn nun behauptet wird, die Vertiefung der Union scheitere an ihrer vorherigen Erweiterung und damit an den osteuropäischen Beitrittsländern, verwechselt man die Kausalitäten. Zurückgewiesen haben die Verfassung Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft, deren Politiker leicht von ihrem eigenen Versagen ablenken konnten, indem sie alle Schuld auf „Brüssel“ und das vermeintliche „Sozialdumping“ der neuen Mitglieder schoben. Wer jetzt Ost gegen West ausspielen will – und hofft, man könne Ressentiments im Dienste des guten Zwecks Vertiefung zumindest teilweise instrumentalisieren – spricht der Rede von europäischer Solidarität Hohn und gibt wieder einmal der fatalen Versuchung nach, Brüssel zum Sündenbock zu machen – was sich bei der nächsten Abstimmung rächen wird. Aber er verkennt auch, dass gerade die Erweiterung, bei der die Union ihre „weiche Macht“ effektiv im Sinne von Demokratisierung und Liberalisierung einsetzte, eine der größten Leistungen Europas ist. Wer, wie Peter Glotz in der taz, eine nicht verfasste EU bereits für „bedeutungslos“ erklärt, vergisst die Bedeutung der EU für Menschen in Istanbul, Sarajevo oder Kiew.
Doch auch wer nicht in Trotz und Verzweiflung ob der Zukunft der EU verfällt, muss sich fragen: Ist das postmoderne Experiment einer europäischen Verfassung ohne europäischen Staat nun gescheitert? Gibt es keinen Dritten Weg zwischen einem europäischen Staat auf der einen Seite und kontinuierlich kooperierenden, aber letztlich klar souveränen Nationalstaaten auf der anderen?
Auch hier gilt es zu differenzieren. Die europäischen Eliten haben bewusst Erwartungen geweckt, die ein Verfassungsvertrag, welcher vor allem bereits Erreichtes konsolidierte, nur schwer erfüllen konnte. Laut Tocqueville ist es bekanntlich nicht eine objektiv schlechte Situation, sondern die von Eliten erst geschürte und dann enttäuschte Hoffnung auf Verbesserung, welche zu Revolutionen führt. Es war im Rückblick wohl naiv anzunehmen, ein verfassungsgebender Prozess würde automatisch Legitimität erzeugen – besonders dann, wenn die Verfassungsgeber am Ende nicht erklären konnten, was neu und wichtig ist. Das Wort „Verfassung“ ist nicht Teil einer Zauberformel, welche Gemeinwesen Glaubwürdigkeit aus dem Nichts verschafft. Verfassungspatriotismus gründet sich letztlich auf gute Gründe – und nicht auf Hymnen, Flaggen oder andere aus den Hochzeiten des Nationalstaats geborgte Symbole zur Erweckung von Euro-Gefühlen.
Sinnvoll wäre eine Lösung, die Regeln der Verfassung, welche der Union Handlungsfähigkeit bewahren sollten, in einer Art europäischem Grundgesetz zu verankern. Auf diese vom bundesdeutschen Beispiel inspirierte Möglichkeit hat bereits vor einiger Zeit die amerikanische Politikwissenschaftlerin Cindy Skach hingewiesen. Ebenso wie in der Bundesrepublik könnte man ein Regelwerk annehmen, welches von allen als vorläufig verstanden wird, das sich aber praktisch bewähren und damit als bewahrenswert herausstellen könnte. Die Option einer endgültigen Verfassungsgebung bliebe gleichzeitig gewahrt.
Darüber hinaus könnte man eine gestraffte Charta der Grundrechte (oder gar zwei Versionen davon) nach gebührender Denkpause noch einmal allen europäischen Bürgern zur gleichzeitigen, europaweiten Abstimmung vorlegen. „Wollen Sie diese (oder jene) Rechte gegenüber der EU oder nicht?“ – eine derartige Frage würde deutlich machen, dass die Union ihre Bürger ernst nimmt und in gewisser Weise vor sich selber schützen will. Der normative Gehalt der Verfassung, den die französische Linke leichtfertig aufs Spiel gesetzt hat, wäre damit zumindest teilweise gerettet. Und ebenso das Experiment Supranationalität ohne Staat, das – bei allen Problemen – die erfolgreichste politische Innovation seit Erfindung des Nationalstaats darstellt. JAN-WERNER MÜLLER