piwik no script img

berliner szenenGezeichnet vom Schalt-Schicksal

Ich sitze mit S. in einem Restaurant. Wir reden über eines der drängenden Probleme unserer Zeit, die Schaltsekunde.

Es begann damit, dass S. seine Fingerknöchel aneinanderhielt: „Weißt du doch, die Berge sind lange Monate und die Täler kurze.“

„Hm“, meinte ich, „konnte mir nie merken, wo man anfängt.“

„Na hier.“ S. zeigte auf den Knöchel des kleinen Fingers: „Januar, Februar – dieses Jahr ist übrigens ein Schaltjahr, daher gab es einen 29.“

„Ach ja“, sagte ich und musste an unseren alten Nachbarn Herrn M. denken, der tragischerweise am 29. Februar geboren worden war, weshalb er mir als Kind einmal erklärte, dass er seinen Geburtstag nur alle vier Jahre feiern könne. Ich sah ihn entsetzt und dann sehr mitfühlend an. Herr M. war ein vom Schalt-Schicksal Gezeichneter. „Ach was“, meinte Herr M. „Denk nur mal, wie jung ich mich fühle, wenn ich bloß jeden vierten Geburtstag feiere.“ Ich fand das wenig überzeugend.

Jetzt zückt S. das Handy und liest: „Es gibt sogar Schaltsekunden, die nach Bedarf vom Internationalen Dienst für Erdrotation und Referenzsysteme eingefügt werden.“

„Wie“, frage ich und er liest vor, dass die Erde bei ihrer Drehung länger benötige als 24 Stunden, daher wird eine Schaltsekunde eingefügt, bevor die Weltzeit eine Sekunde abweicht. „Wann das denn?“, frage ich. S. liest aber einfach weiter: „Da sich die Erde 2020 schneller als jemals in den letzten 50 Jahren drehte, überlegt der Dienst nun, negative Schaltsekunden einzuführen.“

Ich denke an Momo, die grauen Herren und die Zeitersparnis und überlege: „Vielleicht fügt dieser Dienst dann bald auch negative Schalttage ein, um die Zeit anzuhalten.“ S. reagiert nicht, aber ich überlege schon mal, was ich an einem angehaltenen Tag so machen würde.

Isobel Markus

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen