S-BAHN-JOGGING: Die große Runde
Unverständlicherweise hatte ich in den letzten Monaten ein paar Kilo zugelegt. Hannah, die sonst über so manches hinwegsieht, stand eines Morgens im Badezimmer vor mir und schluckte. Was ist, fragte ich. Ich weiß nicht, sagte sie, aber du siehst anders aus. Du musst gar nichts weiter sagen, wiegelte ich ab. Das Problem ist mir bewusst. Ich arbeite gewissermaßen schon daran. Ah, sagte Hannah, drehte sich um und verschwand.
Scheiße, dachte ich. Ich muss etwas tun. Zugegebenermaßen war ich in letzter Zeit häuslich geworden. Ein Haufen unübersetzter Texte stapelte sich auf meinem Schreibtisch und wurde nicht weniger. Hier und da ein Freundschaftsdienst. Zuletzt hatte mich ein chilenischer Dichter gefragt, ob ich seine Sonette ins Deutsche übersetze. Ich konnte nicht nein sagen, schließlich hatte er vor nicht allzu langer Zeit aus einem Hubschrauber 100.000 Gedichte über dem Lustgarten abgeworfen und wollte so was in der Art nun in London zur Olympiade wiederholen.
Klar würde ich ihm den Gefallen tun, vielleicht würde ja etwas vom Glanz des Olympioniken mit Leier auf mich abstrahlen. Dann dachte ich wieder an Hannah und wie sie mir über den Wulst, der sich über den Gürtel stülpte, strich und wie sie eigentlich etwas sagen wollte. Aber ihre Lippen verzogen sich zu einem langen dünnen Strich.
Am nächsten Morgen rollte ich mich vor ihr aus dem Bett, stolperte ungeduscht gen Südkreuz. Ich sprang in die erste Ringbahn, die kam, Richtung egal, setzte mich aber nicht, sondern klemmte mich, auf einem Bein balancierend, an eine Stange und stieg erst eine Stunde später und wieder an derselben Stelle aus: Südkreuz. 9.45 Uhr. Ich ließ mir aufgebackte Teiglinge einpacken und stand zehn Minuten später leicht verschwitzt vor Hannah. Die fragte, wo warst du denn? Ich war Joggen, hab ’ne große Runde gemacht, sagte ich, ohne zu lügen. TIMO BERGER
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