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Archiv-Artikel

Er ist so unendlich schlaff

KÜCHENGESPRÄCHE Wen wählen am Sonntag in Frankreich: Eva Joly (grün), François Hollande (rot) oder Jean-Luc Mélenchon (dunkelrot)?

VON ELISE GRATON

Eva Joly finde ich ja toll.“ Mit diesen Worten empfängt mich Anne am Pariser Flughafen Orly. Kaum gelandet, umweht mich Präsidenschaftswahlstimmung: Eva Joly kandidiert für die Grünen. Einen Namen machte sich die gebürtige Norwegerin in den 1990er Jahren als Antikorruptionsrichterin, vor allem durch ihre Ermittlungen in der Elf-Aquitaine-Schmiergeldaffäre.

Authentizität und Gerechtigkeit, dafür steht sie. Und genau das braucht das heutige Frankreich dringend, meint Anne. „Aber sie erreicht nur gerade mal 2 Prozent in den Umfragen.“ Nicht dass Ökologie kein Topthema wäre: Die Leute fänden sie nur einfach zu unfreundlich. Also überlegt Anne, ob sie nicht lieber „taktisch wählen“ sollte: Der Schrecken von 2002, als der Front-Nationalist Jean-Marie Le Pen gegen Jacques Chirac in die zweite Wahlrunde ging, sitzt immer noch tief in den Knochen der LinkswählerInnen. Das hieße nun also für Anne, dass sie ihre Stimme François Hollande geben müsste. Der Sozialist hat die besseren Chancen, in die zweite Runde zu kommen. Er führt in den Umfragen teilweise vor Nicolas Sarkozy mit bis zu 32 Prozent der Wahlstimmen.

Doch Anne sagt über Hollande: „Er ist so unendlich schlaff. Der nervt.“ Und schließt ab: „Ich bin gerade geneigt, Jean-Luc Mélenchon zu wählen.“ Der ehemalige Sozialist ist derzeit in aller Munde. Die prognostizierten Wählerstimmen sind von anfangs 6 auf 15 Prozent gestiegen. Sogar Mitglieder des Nouveau Parti Anticapitaliste unterstützen ihn lieber als ihren eigenen Kandidaten Philippe Poutou. 2008 verließ Mélenchon die Sozialistische Partei, um den Parti de Gauche (Linkspartei) zu gründen. Bei den Präsidentschaftswahlen ist der 60-Jährige nun Kandidat des Front de gauche (Linksfront), eines Wahlbündnisses aus seiner und der Kommunistischen Partei. Bei seinen Auftritten herrscht Andrang. Zuletzt sammelten sich seinetwegen 70.000 frenetische Menschen auf der Place du Capitole in Toulouse.

Anne erklärt seinen Erfolg so: „Er drescht keine leeren Phrasen und lässt sich von Journalisten, diesem herablassenden Haufen, nicht einschüchtern.“ Er wolle radikal aufräumen und uns aus der Sarkozy-Rassismus-Falle befreien. Anne lässt trotz kleinerer Zweifel keine Gelegenheit aus, alle ungefragt von ihrer Mélenchon-Tendenz zu unterrichten.

Der bringt Tibeter um!

Dabei stößt sie im Freundeskreis nicht immer auf Zustimmung. Wie etwa bei Cathy und Lionel, AnhängerInnen Jolys und gerade zu Besuch in Annes Küche: „Wie kannst du nur? Ausgerechnet du, der ist doch für die Kernenergie!“, schreien sie Anne an. „Er ist Kommunist, er bringt Tibeter um!“ Anne steht auf. „Na, das macht echt Spaß, mit euch zu debattieren“, und torkelt in Richtung Keller, um eine weitere Weinflasche zu holen.

Kaum ist sie aus dem Zimmer, fährt Lionel fort: „Hast du Joly kürzlich im Fernsehen gesehen? Verdammt, wer hat die denn geschminkt?“ Cathy: „Ja, sah ziemlich nuttig aus. Das geht echt gar nicht!“ Als Anne samt Wein zurückkehrt, hat sich Eva Jolys Brille zum Topthema entwickelt. Man ist sich einig, das rote Designerstück sei ein Volltreffer. Ausgiebig wird über den Namen ihres Stilberaters gestritten.

Nun klingeln Pauline und Arnaud an der Tür und werden mit einem „Was meint ihr: Joly oder Mélenchon?“ empfangen. „Hollande“, antworten die Beiden einstimmig. „Ich vertraue unser Land keinem an, der nicht über die richtigen Diplome verfügt“, konkretisiert Pauline. Ach ja: Hollande hat die Ecole Nationale d’Administration in Straßburg besucht, wo die Elite der französischen Verwaltungsbeamten ausgebildet wird.

Das Fass zum Überlaufen bringt schließlich Annes kleiner Sohn, der zu später Stunde in die Küche taumelt, um seine Hausaufgaben überprüfen zu lassen. Wie unbedarft schmeißt er in die Runde: „Also diese Marine Le Pen, die finde ich gar nicht so schlecht.“ Klarmachen zum Gefecht! Mit allen pädagogischen Mitteln wird wild auf den 10-Jährigen eingeredet. Vom Wahlfieber benebelt, merkt keiner, dass der Frechdachs lediglich einen Witz gemacht hat. Die Nerven liegen blank. Beim Versuch, die Lage zu entspannen, gerate ich selbst in die Schusslinie: „Das ist nicht lustig! Im Radio wurde kürzlich erzählt, dass tatsächlich hauptsächlich Jugendliche für diese rechtsextreme Populistin stimmen“, brüllt mich Anne an. „Die Idioten verstehen sich dabei auch noch als Protestler! Was ist denn bitte daran rebellisch, den Front National zu wählen?!“ Gute Frage. Le Pen ist in den Medien fast genauso präsent wie Sarkozy.

Da fällt mir auf, dass ich während meines Paris-Aufenthalts vom amtierenden Präsidenten kaum etwas gehört habe. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass Sarkozy in die zweite Wahlrunde kommt, ist hoch. Wenn Joly das auch schaffen könnte, dürfte man die Wahlen fast schon als Erfolg der Integration werten: Eine ehemalige Norwegerin und der Sohn eines ungarischen Einwanderers stünden den FranzösInnen zur Wahl. Bei einer letzten Flasche Wein werden wir uns schließlich alle einig: Dann aber bitte lieber Joly.