Feinste Polituren

Schriften zu Zeitschriften: Das kreative Potenzial der Scham, besonders der weiblichen, wird im „Konkursbuch 43“ zum Thema. Schamlos ihr Unglück zelebrieren dagegen die dekadenten Dichter, denen das „Schreibheft 64“ gilt

Man soll sich ja allenthalben gut finden und dazu stehen, wie man eben ist. Daher begegnet einem ein Wort wie „Scham“ vor allem dort, wo persönlicher Bekenntnisdrang und Selbstzerknirschung noch angesagt sind: in historischen Gedenkstunden oder in der Literatur. Und in der Tübinger Zeitschrift Konkursbuch, deren 43. Ausgabe diesem Thema gewidmet ist.

Was an der Scham so peinlich ist, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Alexandra Pontzen so: Scham sei eigentlich „ein Problem der eigenen Identität, eine Dissonanz zwischen Fremd- und Selbstbild“, die lediglich als soziales Konstrukt funktioniere: „Der Preis für die eigene Anerkennung liegt darin, unter der imaginären Präsenz des fremden Blickes zu leben und zu handeln, und das ständig, weil man selbst sich schließlich gar nicht anders denn mit den Augen der anderen zu sehen vermag.“ In der Menschheitserzählung der Bibel stehe die Scham ganz am Anfang, und das mache „die Tradition der Scham lang und ihr Erbe belastend“.

Doch Pontzen will beobachtet haben, dass sich das Gefühl der Scham hierzulande gerade von seinen ethischen Restbeständen zu befreien suche. Harald Schmidt sei zur Ikone einer Kultur geworden, „der im Idealfall nichts mehr peinlich ist“. Auch darin zeige sich allerdings nur der „infantile Optimismus“, der „unter dem Eindruck von Beichte und – einflussreicher – Psychoanalyse daran glaubt, sich durch Bekenntnis und Verbalisierung der Peinlichkeit von ihr zu reinigen und dem gefürchteten Ausschluss aus der Gemeinde zuvorzukommen“.

Die weiteren Beiträge im Konkursbuch sprechen allerdings bevorzugt davon, dass die biblische Urszene die literarische Selbstthematisierung vor allem weiblicher Scham offenbar weiterhin erfolgreich inspirieren kann. Im Allgemeinen erscheint hier Scham ganz archaisch als ein am eigenen Körper erfahrenes Verhängnis von Fettleibigkeit, Menstruation oder Verlassenwerden. In einer Erzählung von Luitgard Hefter plagt sich die pubertierende Protagonistin mit ihren Brüsten: „Eines Tages platzten sie aus meinem Oberkörper heraus und waren da.“ Immerhin geht hier mit der Scham auch die Verheißung einer zumindest imaginär mitgewachsenen sozialen Geltung einher: „Mein Busen ist Gesprächsstoff im Dorf.“ So lässt sich der fremde Blick positiv umdeuten.

Männliche Scham verbirgt sich – wen wundert’s? – in eher körperferner geistvoller Verbrämung. So etwa in Olaf Nollmeyers Kurzgeschichte „B 244“ über die Aufstiegsträume eines einfachen Musikpädagogen. Sein Leitbild ist der schwerblütige Komponist Alexander Scriabin. Der hatte in seinem Tagebuch geschrieben: „Die Scham ist eine offene Wunde. Das Tor zum Innern der Welt. Tritt ein, willst Du ein Zauberer sein.“ Winkt darin nicht ein Versprechen? Dass Scham sich mit etwas Glück in genialische Meisterleistung verwandeln lässt? Doch der Held der Geschichte kann sich nur dank eines Verwaltungsfehlers zum Meisterschüler mogeln und fliegt als Hochstapler auf: „Nun zerstob Jakobs perfekte Komposition aus Frauen, Klavier und Karriere in tausend Tonpartikel ohne Halt.“

Das erinnert fatal an das beschämend kreative Verhältnis der dichterischen Décadence vor hundert Jahren zu sich selbst. Davon erfährt man in der neuen Ausgabe der Literaturzeitschrift Schreibheft, die dem portugiesischen Dichter Mário de Sá-Carneiro gewidmet ist. Einem verkrachten Jurastudenten, der sich in seinem Kaffeehausdämmer zur hermetischen wie welthaltigen Monade fabulierte: „Beim intensiven Polieren meiner Fingernägel / Überrascht mich ein unerklärlicher Zärtlichkeitstaumel“. Als lakonischer Selbsthasser besingt Sá-Carneiro die „futuristische Schönheit der Waren“: „Überall Nägel, Stricke, Spannringe … – Aber wie tanzen funkensprühend über all dem / Die Beschriftungen all dieser Ballen / Vor meinen schönheitskühnen Augen – / Schwarz, rot, blau, grün – / Schreie des Heute und von Kommerz & Industrie / Im kosmopolitischen Warenverkehr: fragil, fragil“.

Was Sá-Carneiro 1908 über den unglücklichen João Jacinto schrieb, der auszog, ein besonderer Mensch zu werden, und sich in Liebesgram ganz futuristisch vor ein Auto warf, charakterisiert den Autor selbst: „ein Träumer, der nur aufgewacht ist, um sich umzubringen, das heißt: um weiter zu träumen. Zusammengefasst: Er war ein Unglücksmensch, mehr nicht.“ Stilsicher vergiftete sich Sá-Carneiro mit 25 Jahren in einem Pariser Hotelzimmer. Sein trocken inszenierter Tod ist in dem Brief eines flüchtigen Pariser Bekannten an Fernando Pessoa überliefert: „Wie selbstverständlich fragte ich, ob er Kopfschmerzen hätte; worauf er sagte – ich habe soeben fünf Kanülen arsenhaltiges Strychnin genommen.“

JAN-HENDRIK WULF

Konkursbuch 43, 15,50 €ĽSchreibheft 64, 10,50 €