Brigitte Werneburg schaut sich in den Galerien von Berlin um

Xavier de Maistre (1763–1852) schrieb seinen Essay „Die Reise um mein Zimmer“ 1790, als er als Offizier in Turin 42 Tage unter Hausarrest stand. Eingeschlossen begann er wie ein staunender Gutachter sein Quartier zu erkunden: den Tisch, das Bett, den Stuhl, die Bilder an der Wand. Für seine aktuelle Ausstellung bei der Galerie/Edition Stella A., die er nach de Maistres Essay benannt hat, ging Andreas Seltzer etwas längere Wege. Doch auch der Objektsammler Seltzer agiert nach dem Imperativ: „Grabe, wo du stehst!“ Und so wird Berlin mit seinen Flohmärkten und Straßen zu seinem Wohnzimmer. Hier findet er die Zeitungsschnipsel, Briefe, Landkarten und das ausrangierte Spielzeug, kurz die Fundstücke, die er dann zu eigenen Kunstwerken präpariert. Am verblüffendsten: die Fotoserie, in der ein anonymer Hobbyfotograf bei ARD und ZDF markante Momente der 70er-Jahre festgehalten hat. Richard Nixon, Kinderstar Heintje und den „Was bin ich“-Rateonkel Robert Lembke. Die Studiosituation findet sich dann in Sven Johnes Videofilm „Tears of the Eyewitness“ wieder, der im Rahmen der Ausstellungsserie „Letzte Überprüfung“ des Kunstraums Flutgraben e. V. im Grenzwachturm Schlesischer Busch zu sehen ist. Man steigt also ein sehr steile, sehr enge Treppe zur Projektion hoch, in der Sven Johne, der in Leipzig bei Timm Rautert Fotografie studierte, zwei ungefähr 40-jährige Männer einander gegenübersetzt. Der eine, der amerikanisches Englisch spricht, befragt den anderen, der allerdings nur mimisch reagiert, nach den Ereignissen des Jahres 1989. Die Bilder, die wir alle in unserem kollektiven Bildgedächtnis gespeichert haben, werden also nicht gezeigt, sondern nur in den Fragen des Interviewers heraufbeschworen. Derart provoziert, sich zu erinnern, ertappt man sich dabei, dass man genauso grimassiert wie der Befragte.

■ Andreas Seltzer: „Die Reise um mein Zimmer“, wieder vom 16. bis 27. September, Mi.–Sa. 14–19 Uhr, Galerie/Edition Stella A., Gipsstraße 4 ■ Sven Johne: Tears of the Eywitness, bis 27. September, Do.–So. 14–19 Uhr, Grenzwachturm Schlesischer Busch