Susan Sontag und die Folgen

DISKURS Lieber performen als definieren: das Festival „Camp/Anti-Camp“ im HAU 2

VON ENRICO IPPOLITO

Die Schauspielerin Susanne Sachsse betritt die Bühne. Die Scheinwerfer sind auf sie gerichtet. Mit scharfer Intonation liest sie aus Susan Sontags Aufsatz „Anmerkungen zu Camp“ – und zwar von hinten nach vorne. Es entsteht etwas Albernes, fast Spöttisches. So eröffnet Sachsse ihr Festival „Camp/Anti-Camp“ im HAU 2, das sie gemeinsam mit Marc Siegel kuratiert. Hier soll der Camp-Diskurs weitergeführt, vielleicht sogar neu zugeschrieben werden.

Die Schriftstellerin Susan Sontag erlangte 1964 für ihren Aufsatz „Anmerkungen zu Camp“ große Aufmerksamkeit und führte den Begriff, der aus der queeren Subkultur des 20. Jahrhunderts kommt, in den wissenschaftlichen Diskurs ein. „Zum Wesen des Camp gehört vielmehr die Liebe zum Unnatürlichen: zum Trick und zur Übertreibung. Und Camp ist esoterisch – eine Art Geheimkode“, schreibt Sontag. Oft werden die Begriffe Camp und Kitsch synonym verwendet. Für die Literaturwissenschaftlerin Eve Kosofsky Sedgwick unterscheidet sich jedoch Camp erheblich vom Kitsch. Nach Sedgwick ist Kitsch eher als Zuschreibung zu verstehen, Camp hingegen als Prozess der Anerkennung.

Marc Siegel und Susanne Sachsse fordern mit diesem multidisziplinären Festival die Weiterführung des Diskurses ein und sehen Handlungsbedarf. Was die beiden Mitbegründer des Künstlerkollektivs Cheap aber eigentlich wollen, ist den Begriff „Anti-Camp“ einführen – als Distanzierung von Sontags Essay. Sie wollen „das Konzept neu verorten, indem wir es mit scheinbar unverwandten Praktiken konfrontieren“. Laut Siegel sind „Camp und Anti-Camp dialektisch“.

Sachsse und Siegel haben Performer und Wissenschaftler eingeladen, unter anderem den Professor für Kunstgeschichte Douglas Crimp, die Queer-Studies-Theoretikerin Heather Love und den Filmemacher Bruce LaBruce. Doch alles beginnt erst mal mit der Tradition – und zwar mit Holly Woodlawn. Lou Reed sang bereits über sie und der Pop-Art-Künstler Andy Warhol machte die Dragqueen zum Superstar. In Berlin gibt sie eins ihrer raren Chanson-Konzerte. Auch mit 65 Jahren hat Woodlawn nichts an ihrer Boshaftigkeit, Witz und Charme verloren.

Die zweite Performance des Abends gehört der New Yorker Künstlerin Narcissister. Sie hinterfragt Geschlechterbilder, „Race“ und „Body Images“. In ihrer akrobatisch-burlesquehaften Aufführung erscheint Narcissister angezogen mit einer Barbie-Maske, jedoch ist der Rücken mit einem komplett anderen Kostüm und einer anderen Maske versehen – das Spiel der zwei Identitäten. Der Abschluss ihrer Performance ist ein Reverse-Striptease, in dem die Künstlerin nackt auf die Bühne tritt, nur mit einem Tanga sowie ihrer Afro- und Schamhaarperücke – aus ihren Körperöffnungen und ihrem Afro holt sie die Kleidung heraus und zieht sich langsam an. Laut ihrem Lebenslauf war Narcissister Tänzerin bei der Alvin Ailey American Company, viel mehr weiß man über sie nicht. Doch ihr Spiel mit den Dichotomien Mann/Frau und Schwarz/Weiß reizt sich schnell aus, regt jedoch an, die eigenen Konzepte zu überdenken.

Am zweiten Tag steht das Festival ganz im Rahmen von „Tropicamp“, ein Begriff des brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica, der damit seine Faszination für „antikommerzielle Tendenzen innerhalb der US-Undergroundfilm-Szene (vor allem bei Jack Smith und Mario Montez) zum Ausdruck bringt“. Die von Max Jorge Hinderer Cruz kuratierte Sektion beschäftigt sich mit „Tropicalismus und Internationalismus der Avantgarde“, unter anderem auch mit dem Hollywood-Star Carmen Miranda. Doch hier driften die Vorträge ins Spezifische ab, in eine Art Expertenwissen, zu der es schwer ist, Zugang zu finden.

Nach drei Tagen ist weder der Begriff Camp noch der Begriff Anti-Camp klar definiert. Stattdessen äußern die Gäste viel Kritik an Sontags Essay. Natürlich darf man Sontags Ansatz hinterfragen, vor allem dann, wenn sie Camp eine politische Dimension abspricht. Oder wie Douglas Crimp hinzufügt: „Was haben Tiffany-Lampen und Werke von Mozart gemeinsam?“ Für Sontag sind nämlich beide Camp.

Wahrscheinlich ging es Susanne Sachsse und Marc Siegel auch nicht darum, Antworten zu geben, sondern Fragen aufzuwerfen. Doch eine vielleicht notwendige Kontroverse bleibt so aus. Da der Begriff nicht neu angeeignet wird, bleibt immer nur das Gefühl von persönlichem Halbwissen zurück. Vielleicht ist aber genau das Camp – etwas Persönliches.