: Mit Haus und Huhn, aber ohne Hitler
Ein Buch über die Ansiedlung deutscher Juden in speziellen Bauernsiedlungen Palästinas beleuchtet die Rettung und den schwierigen Neuanfang der Verfolgten
Von Klaus Hillenbrand
Ludwig Schloss ist Sozialdemokrat, Jude, Ehemann und Vater dreier Töchter und lebt in Nürnberg. Er führt eine Papiergroßhandlung. Man ist gut situiert – bis die Nazis an die Macht kommen. Nach antisemitischen Diskriminierungen zieht die jüdische Familie 1935 nach Stuttgart um. Doch auch dort greift der Judenhass um sich. Schloss entschließt sich zur Flucht ins damals britische Mandatsgebiet Palästina.
Der Vater kauft sich 1937 bei der jüdischen Wohnungsbaugesellschaft Rassco ein. Der Vertrag bezieht sich auf 10 Dunam (10.000 Quadratmeter) Grund und ein Siedlungshäuschen nebst Kuhstall, Schuppen und Hühnerhaus in einer Siedlung für deutsche Auswanderer. Doch das Dorf muss noch gebaut werden. Ein neues Leben beginnt – als Bauern in Eretz Israel.
Die Einwanderung von Familie Schloss in Palästina ist nur eine von Dutzenden Familiengeschichten, die sich in einem Band mit dem etwas sperrigen Titel „Mit Rassco siedeln“ finden. Sie beleuchten einen schmerzhaften Neuanfang – und dies nicht nur in einem fremden Land, sondern auch in einem fremden Beruf.
Ines Sonder und Joachim Trezib: „Mit Rassco siedeln. Transferwege der Deutschen Alija nach Palästina-Erez Israel“. Hentrich & Hentrich Verlag, Leipzig 2023, 559 Seiten, 35 Euro
Die Rassco-Siedlungen für den deutschen Mittelstand, die ab Mitte der 1930er Jahre entstanden, sollten auch denjenigen eine Chance geben, die bisher nicht im Mittelpunkt des zionistischen Interessen standen – Menschen, die als Kaufleute, Ärzte oder Juristen gearbeitet hatten und nun die falschen Berufe besaßen. Doch während der Judenhass in Deutschland immer furchtbarere Züge annahm, hofften Zehntausende auf ihre Rettung in Palästina.
Ihr Neuanfang begann vielfach als Kleinbauern und mit einem Haus mit maximal drei, meistens aber nur einem oder zwei Zimmern. Dazu erhielten die Einwanderer Hühner, Setzlinge für Gemüse und ein oder zwei Kühe. Instruktoren sollten die Neulinge in die Landwirtschaft einführen, doch hatten diese häufig selbst kaum eine Ahnung von Geflügelkrankheiten und Kartoffelfeldern, wie aus den Berichten der Einwanderer hervorgeht.
Manche dieser Jahrzehnte später abgelegten Erinnerungen lesen sich amüsant – aber ganz so lustig wird es nicht gewesen sein, wenn eine Familie nach der Einreise glaubte, ein Haus beziehen zu können, von dem noch nicht einmal der Rohbau stand, wenn die Wasserversorgung nicht richtig funktionierte und sich Skorpione auf dem Bauplatz tummelten.
Doch irgendwann standen die Häuser und Hühnerställe. Es entstanden damit in Palästina auch deutsche Sprach- und Kulturinseln – nicht immer nur zur Freude der Nachbarn, bei denen die Sprache Hitlers verpönt war. Dennoch, so geht aus den akribischen Recherchen der Autoren Ines Sonder und Joachim Trezib hervor, waren die Mittelstandssiedlungen der Rassco ein Erfolg. Damit gelang es, Menschen eine Zukunft zu geben.
Möglich gemacht hatte das ein Vertrag zwischen der Jewish Agency als Vertretung der Juden in Palästina und dem Reichswirtschaftsministerium in Berlin. Das Haavara-Abkommen erlaubte es, dass auswandernde Jüdinnen und Juden mit ihrem Ersparten deutsche Waren in Palästina beziehen konnten, wozu etwa BMW-Motorräder, Kacheln von Villeroy & Boch oder Türklinken zählten – also auch Material zum Hausbau. Das machte sich Rassco zunutze.
Das Abkommen ermöglichte es also wohlhabenderen Menschen, einen Teil ihres Kapitals indirekt nach Palästina zu transferieren. Das sorgte dafür, dass vielen von ihnen die Auswanderung erleichtert wurde – und damit ihre Rettung vor dem 1941 beginnenden Holocaust.
Andererseits war das Haavara-Abkommen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Palästina höchst umstritten, unterlief es doch den angestrebten Boykott aller deutschen Waren durch die jüdische Welt als Reaktion auf die antisemitische Politik der NS-Regierung. Gerade die rechten, revisionistischen Kräfte in Palästina protestierten deshalb gegen den Vertrag.
Nun liegen über das Haavara-Abkommen durchaus einige Studien vor. Deren Autoren haben allerdings danach geschaut, wie der Vertrag zustande kam. Wie er im Sinne der Betroffenen umgesetzt worden ist, blieb dagegen eine Leerstelle.
Diese ist nun mit dem Buch von Ines Sonder und Joachim Trezib endlich gefüllt. Ihr Werk verdeutlicht die lebensrettende Funktion des Abkommens und es taucht zugleich tief in den Alltag der Menschen ein, die auf der Flucht vor den Nazis ein armes Entwicklungsland erreicht hatten. So wie in den Alltag von Familie Schloss aus Nürnberg. Die Tochter Gerda erinnerte sich: „Mein Vater hatte einen Steinway-Flügel mitgebracht und so bauten sie ihr kleines Häuschen um den Flügel herum.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen