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Archiv-Artikel

Der Geschichte nachfahren

Plastisch: In dem Dokumentarfilm „Die chinesischen Schuhe“ ist Tamara Wyss einer Flussfahrt ihrer Großeltern durch das China der ausgehenden Kaiserzeit auf der Spur

Am besten sind die Treidler. Gleich zu Anfang ihrer Fahrt den Jangtse flussaufwärts, der gleichen Reise, die ihre Großeltern vor fast hundert Jahren unternahmen, hat Tamara Wyss großes Glück. Ihr begegnen ein paar ehemalige Bootsleute, also Treidler, die dafür zuständig waren, Schiffe vom Ufer aus über Stromschnellen zu ziehen. Völlig überrascht, dass sich überhaupt noch einer für ihr ausgestorbenes Handwerk interessiert, führen sie das Filmteam am Ufer entlang, suchen aufgeregt die Löcher in den Steinen, an denen die Seile festgezurrt wurden, erklären lautstark, was zu tun war.

Es sind plastische Momente wie diese, in denen die Reise der frisch Vermählten Max Friedrich Weiss und Hedwig Margarete Weiss-Sonnenburg in den Jahren 1911 und 1912 von Schanghai über Chonqing bis nach Chengdu auf einmal vorstellbar wird. Das funktioniert dann etwa so: Man hört aus dem Off Tagebucheintragungen oder Zitate aus den Kinderbüchern, die Hedwig Margarete über China schrieb – wie sie etwa auf dem Schiff mit Champagner und Gänseleberpastete ihren Geburtstag feierten, wie schwierig es war, das Piano auf die Dschunke zu verladen, oder wie neugierig sie auf das Ziel ihrer Reise ist, wo ihr Mann das Amt des deutschen Konsuls antreten sollte. Man hört außerdem Tonbandaufzeichnungen von dieser Reise, die Gesänge der Treidler, sieht alte Fotos, wie sie im Wasser schufteten.

Außerdem verfolgt man Tamara Wyss im Hier und Jetzt, im Spätsommer 2002, wenige Wochen vor der Flutung der Drei Schluchten – also kurz bevor die letzten der alten Uferstädte gesprengt wurden. Man sieht das moderne Fährboot, den riesigen Staudamm, die begeisterten chinesischen Touristen. Und man lernt, wie gesagt, Menschen wie die Treidler kennen, die sich noch erinnern, die ihren Beruf verloren, als der Fluss begradigt wurde, die ihr Haus verlieren werden, wenn er ansteigen wird, und die sich mit einem kleinen Theaterstück über ihren ehemaligen Beruf notdürftig über Wasser halten. Und durch all diese Ebenen, die es zu synchronisieren gilt, setzt sich im Kopf des Zuschauers allmählich der irrsinnige Umbruch zusammen, der zur Zeit in China stattfindet.

Schade nur, dass Tamara Wyss es nicht bei dieser Reise belassen und einfach weiterhin darauf vertraut hat, am Wegesrand Biografien wie die der Treidler aufzugabeln. In Chonqing, der Zwischenstation für ihre Großeltern, schwenkt der Film auf einmal um und stellt junge Frauen in den Vordergrund, die vom Wirtschaftsboom in dieser größten Stadt der Welt profitieren. Die Großeltern geraten ein wenig aus dem Blick. Man lernt noch einmal eine beeindruckende Frau kennen, eine 110 Jahre alte Dame, die anschaulich vom kaiserlichen China berichtet. Eine Beziehung zu Max Friedrich Weiss und Hedwig Margarete Weiss-Sonnenburg lässt sich dennoch schwer herstellen – allein schon deshalb, weil die Großeltern, wie damals üblich, als Westler kaum Kontakt zu chinesischen Nachbarn pflegten.

Andererseits wird so auch eine ganz spezielle Stimmung erzeugt: ein Verlustgefühl, dass man manchmal einfach nichts wiederfinden, nichts wiedererkennen kann. Wahrscheinlich gehört das einfach auch dazu, wenn man im heutigen China das China von vor hundert Jahren wiederzufinden versucht.

SUSANNE MESSMER

„Die chinesischen Schuhe“. Regie: Tamara Wyss. China und Deutschland 2004, 104 Min., Termine im Programm