: Die Poker-Bubis aus dem Internet
VON THOMAS WINKLER
Ein Mausklick nur, ein Bein im Knast. Vielleicht geht’s MrLang515 ja ähnlich. Oder BIGGHuncher. Kommt darauf an, wo deren Computer steht. MythicalCat macht sich wohl nicht solche Sorgen, womöglich erhöht sie deshalb den Einsatz auf neun Dollar. Mit einem einsamen Buben auf der Hand geht man besser nicht mit. Bald liegen 135 Dollar im Pott. Hyerany holt ihn sich mit einem Pärchen Sechsen. Nun drohen dem deutschen Pokerspieler bis zu sechs Monate Gefängnis, theoretisch zumindest.
Ob mit Strafandrohung oder ohne: Poker erlebt – nicht nur im Internet – einen ungeahnten Boom. Ein beliebiger Vormittag an einem normalen Arbeitstag: Allein bei partypoker.com, dem Marktführer, sind mehr als 400 virtuelle Tische mit jeweils bis zu neun Spielern besetzt. Manche Tische tragen schlicht Nummern, andere heißen „Pirate’s Cove“ oder „American Pie“. Schätzungen gehen davon aus, dass zu jeder Tages- und Nachtzeit 1,8 Millionen Spieler online pokern, täglich sollen 180 Millionen US-Dollar verspielt werden. Eine neue Studie der englischen Wirtschaftsberatung MECN erwartet, dass 2005 mehr als 60 Milliarden Dollar bei Pokerspielen im Internet umgesetzt und sich die bei jedem Blatt anfallenden Abgaben an die Online-Casinos auf vier Milliarden summieren werden. Allein PartyGaming, in Gibraltar ansässiger Betreiber von partypoker.com, soll an fünf Millionen registrierten Spielern im vergangenen Jahr 300 Millionen Dollar vor Steuern verdient haben und will den Gewinn in diesem Jahr verdoppeln. PartyGaming und der Konkurrent 888.com bereiten gar ihren Börsengang vor.
Poker ist Stoff für Legenden
Um Spieler an ihre Tische im Netz zu locken, bieten die Online-Casinos Neueinsteigern nicht nur Prämien auf ihre ersten Einzahlungen, sondern finanzieren mittlerweile auch Turnierserien wie die World Poker Tour, die Professional Poker Tour oder die European Poker Tour, die Preisgeldsummen ausschütten, wie man sie aus dem Profitennis kennt. Nach dem europäischen Markt soll demnächst vor allem Fernost erobert werden: Dort, vermutet die Branche, warten mehrere Millionen bekannt wettfreudiger Chinesen auf das Glücksspiel im Web. Auch das Fernsehen hat Poker entdeckt. In die Tischkante eingelassene Kameras enthüllen die verdeckt vor den Spielern liegenden Karten und verstärken die Dramatik. In den USA übertragen mittlerweile drei Sender Turniere, die wöchentlichen Übertragungen des Travel Chanels der World Poker Tour sehen bis zu fünf Millionen Zuschauer. Auch Großbritannien meldet gute Einschaltquoten, und selbst hierzulande sind über Eurosport die Veranstaltungen der European Poker Tour, wenn auch mit wochenlanger Verzögerung, zu empfangen.
Längst wuchern die Legenden: Von manchem Profi heißt es, er spiele im Netz parallel an zehn virtuellen Tischen, andere fabulieren von märchenhaften Verdienstmöglichkeiten. Mehr als tausend Bücher wie „Play Poker like the Pros“ sind mittlerweile in den USA verlegt, und herzlich normale Familienväter geben ihre Jobs als Versicherungsmakler oder Autoverkäufer auf, um eine Karriere als Pokerprofi anzustreben. Was sie antreibt, sind Geschichten wie die von Chris Moneymaker: Der 27-jährige korpulente Buchhalter aus Spring Hill, Tennessee, mit dem vielsagenden aber echten Namen marschierte im Mai 2003 ins Binion’s Horseshoe Hotel & Casino in Las Vegas, räumte die 2,5 Millionen Dollar Preisgeld für den ersten Platz ab, und der US-Sportsender ESPN übertrug die Tellerwäschersaga live. Moneymaker war ein vollkommen unbeschriebenes Blatt, hatte zuvor noch nie mit anderen Profis an einem echten Tisch gepokert, ausschließlich im Internet gespielt und sich mit einem 39-Dollar-Einsatz qualifiziert. „Wenn ich hier gewinnen kann“, ließ der Sieger nach seinem Erfolg verlauten, „dann kann das jeder“.
Poker kann jeder. Fast jeder
Der Überraschungscoup wurde zum Dammbruch: Seit Chris Moneymaker verdrängen die im Internet geschulten Milchbubis zunehmend die in verrauchten Hinterzimmern bei illegalen Glücksspielen mit zwielichtigen Gestalten gestählten Altzocker, die noch die an Western geschulten knorrigen Pokerklischees bedienten. Im Vergleich dazu glänzt die neue Generation mit Farblosigkeit, auch wenn sich einzelne mit riesigen Sonnenbrillen vor entlarvenden Blicken der Gegner zu schützen versuchen. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, all die nach dem Platzen der Dotcom-Blase arbeitslos gewordenen Computerfreaks hätten nun eine Existenz im Profipoker begonnen. Die Erfolgreichsten veranstalten Autogrammstunden, halten Vorträge, schreiben Zeitungskolumnen und gehen mit gelehrigen Schülern auf Pokerkreuzfahrt. Poker ist nur das letzte Beispiel, wie das Netz die Alltagskultur verändert: An amerikanischen Universitäten scheinen ganze Jahrgänge mittlerweile nur mehr mit Musikdownloads, Sportwetten und Glücksspiel beschäftigt, mahnen Medienberichte. Einige Colleges haben Poker mittlerweile vom Campus verbannt, weil sie um das akademische Fortkommen ihrer Studenten fürchteten.
Davon ist man hierzulande noch weit entfernt, aber immerhin zeigt sich Eurosport über die Einschaltquoten zufrieden, und partypoker.com betreibt nun auch eine deutschsprachige Website. Das Erfolgsgeheimnis des Spiels ist simpel: Für den Erfolg beim Poker braucht es keine außergewöhnlichen Talente, keine hervorragenden athletischen Voraussetzungen, nur ein wenig Startkapital und gute Nerven. Immer wieder qualifizieren sich völlig Unbekannte über Ausscheidungen im Internet für die großen Turniere und düpieren dort die etablierten Profis. Die von verschiedenen Organisationen geführten Ranglisten unterliegen denn auch tumultartigen Veränderungen. So schnell wie im Poker können in keinem Sport Märchen geschrieben werden, und selbst für Spielshows wie „Wer wird Millionär“ benötigt der Erfolgreiche mehr Wissen als nur ein paar Regelkenntnisse. „Niemand kann von der Straße reinspazieren und Michael Jordan im Basketball oder Tiger Woods im Golf besiegen“, meint Norman Chad, der für ESPN die World Series of Poker kommentiert, „im Poker geht das.“
Poker fehlt eins: die Stars
Das klingt wie der Royal Flush der medialen Verwertbarkeit. Einerseits, denn wenn ein jeder gewinnen kann, kann sich potenziell auch jeder interessieren. Andererseits aber verhindert dieser stete Strom unbekannter Sieger, die ebenso schnell wieder ins Nichts verschwinden, aus dem sie gekommen waren, dass sich im Poker das etablieren kann, was ein jedes Showgeschäft braucht: Stars. Umso dankbarer griff Eurosport auf, dass Jewgeni Kafelnikow, ehemals Nummer eins der Tennisweltrangliste, seinen Ehrgeiz jetzt am Pokertisch austobt. Auch wenn der Russe oft früh ausscheidet, wird sein Gesicht in den Übertragungen ausführlich verwertet.
Die Zuschauer aber lockt wohl mehr die Mischung aus Spielshow, Reality-TV und großem Geld. Ein Problem allerdings gibt es für die Sender, vor allem die deutschen: Das Schmuddelimage von Poker. Noch fehlen Kunden, die die Werbeblöcke füllen könnten – außer den Online-Casinos, die die rechtliche Grauzone hierzulande fürchten, aber auch schon deshalb nicht werben dürfen, wenn ihre Spots mit den Interessen des Hauptsponsors kollidieren, und das ist so gut wie immer ein anderes Online-Casino.
Aber nicht nur in Internet und Fernsehen scheint sich das amerikanischste aller Kartenspiele hier zu etablieren. Der ehemalige Pokerprofi Horst Koch veranstaltet in der ganzen Republik Turniere, die legal sind, weil nicht um Geld gespielt wird, sondern nur Sachpreise ausgeschüttet werden. Damit will er „das Kulturspiel Poker“, so Koch, zum „Breitensport“ machen. Der Zuspruch steige stetig, seine Klientel würde „nie ins Casino gehen, aber spielt gern im Internet“. Wir befinden uns also noch in einer Grauzone, aber die Aussichten, die scheinen rosig.