Marcel Reich-Ranicki und die Seinen

Die schmetternden Jas und entsetzten Neins eines sehr ruhig gewordenen Literaturkritikers und fleißigen Buchproduzenten: Bei der Buchvorstellung von Uwe Wittstocks Reich-Ranicki-Biografie „Geschichte eines Lebens“ in Berlin gab Marcel Reich-Ranicki wie eh und je den publikumswirksamen Unterhalter

Bei Literaturkritik geht es doch um mehr als nur um „langweilig“ oder „glänzend geschrieben“

VON GERRIT BARTELS

Zunächst klingt Marcel Reich-Ranicki wie ein ferngesteuertes Wesen, als er am Mittwochabend in der Berliner Bertelsmann-Repräsentanz eine erste Frage beantworten soll. So als müsste er sich erst warmlaufen, um die Erinnerungs- und Anekdotenmaschine richtig schnurren zu lassen, um zu dem vitalen und schlagfertigen Entertainer zu werden, als der er bekannt ist. Reich-Ranicki ist, ganz klar, die Hauptfigur an diesem Abend, nicht Uwe Wittstock, sein getreuer Biograf und einstiger langjähriger Mitarbeiter in der FAZ-Redaktion, dessen Buch über Marcel Reich-Ranicki gerade in dem zum Bertelsmann-Imperium gehörenden Blessing Verlag erschienen ist. Wittstocks „Geschichte eines Lebens“ ist ein schlankes Buch, das auf 250 Seiten kompakt und präzise, freundlich und überraschungsfrei Reich-Ranickis Leben erzählt: beginnend mit dessen Kindheit im polnischen Wloclawek und den Berliner Jahren, endend mit einem das „Literarische Quartett“ und den „Tod eines Kritikers“-Skandal behandelnden Kapitel, das „Popstar der Kritik“ heißt.

Popstar der Kritik, das passt, selbst wenn die Gattungsbezeichnung stört: Popstar allein träfe es noch besser. Oder auch: Wichtigster Bürger des Landes, denkt man an die landauf, landab erfolgten und bis auf eine Ausnahme in der SZ artigen bis überschwänglichen Würdigungen zu Reich-Ranickis 85. Geburtstag vergangene Woche. Mag das bei solchen Anlässen angehen, so entstand aber auch der Eindruck, dass es in all den vielen Jahren scheinbar keine anderen wichtigen, einflussreichen Literaturkritiker gegeben habe. Ja, dass Reich-Ranicki die personifizierte Literaturkritik und gleich einer der größten Literaten des Landes sei („Mein Leben“). Und noch mehr: Dass er überhaupt die ganze Kulturnation verkörpere, wie es Bundespräsident Köhler in einer Laudatio sagte.

Letzteres ist natürlich irgendwie richtig, denn wo Marcel Reich-Ranicki ist, sind Schiller und Goethe nie weit, auch nicht Thomas Mann und Theodor Fontane. Das stimmt in Sachen Literaturkritik schon weniger, wenn man von Reich-Ranicki immer nur den Namen Koeppen hört, aber nie solche noch zu entdeckender Großautoren der Nachkriegsliteratur wie Dieter Forte oder Dieter Wellershoff. Und das verblüfft schließlich insofern, als dass es den Literaturkritiker Reich-Ranicki seit geraumer Zeit nur noch sporadisch gegeben, ungefähr seit Beginn des „Literarischen Quartetts“ im Jahr 1988, und ihn Gegenwartsliteratur bis auf die TV-Buchbesprechungen nur noch wenig interessiert hat.

Ungefragt aber weist Reich-Ranicki an diesem Abend Wittstock gegenüber diese Einschätzung seiner Person zurück, die zu seinem Geburtstag „in einer Zeitung aus dem Süddeutschen“ gemacht wurde, er veröffentliche doch laufend Aufsätze, Bücher und Rezensionen. Zuletzt erst habe er ein Buch mit Rezensionen über amerikanische Autoren veröffentlicht. Dessen aktuellste stammt allerdings von 1994, und tatsächlich gibt es inzwischen eine Diskrepanz zwischen dem nicht mehr existierenden Literaturkritiker und dem fleißigen Buchveröffentlicher. Reich-Ranicki erstellt Kanons, veröffentlicht Anthologien wie „Meine Gedichte“ und „Meine Geschichten“ oder Rezensionsbände, ganz zu schweigen von der Vielzahl von Büchern über ihn: Biografien von Wittstock oder Thomas Anz oder ein von Hubert Spiegel herausgegebenes Geburtstagsblattbuch, das „Begegnungen mit Marcel Reich-Ranicki“ heißt und nur in sparsamster Dosierung zu lesen ist, so viel Bewunderung türmt sich da auf knappestem Raum auf.

Nun gehört es zu einer der Maximen von Reich-Ranicki, dass sich die kreative Produktivität im Alter erschöpft, dass Alterswerke nie die Stärke von in jungen oder besten Jahren geschaffenen Werken haben – da ist er also ganz bei sich, wenn er sich mit der Kritik von aktueller Literatur zurückhält und sich ausschließlich um die Ordnung seiner literarischen Präferenzen kümmert.

Irritierend ist vielmehr, wenn er von seinen glühenden Anhängern nicht nur für sein ereignisreiches, erinnerungswürdiges und für das 20. Jahrhundert exemplarische Leben gewürdigt wird, für das Leben eines polnischen Juden, Warschauer-Ghetto- und Holocaust-Überlebenden und späteren wirkmächtigen Kritiker in Deutschland. Sondern er zugleich als das Nonplusultra der Literaturkritik gelten soll, mit seinen schmetternden Jas und entsetzten Neins, mit aktuellen, auch in der Bertelsmann- Repräsentanz viel beklatschten Einschätzungen wie „Heute ist alles nicht mehr sensationell, weil alles schon geschrieben worden ist, nur nicht von allen“ oder „99 von 100 Büchern sind Mist und das 100ste taugt vielleicht etwas“.

So war es zwar bei den „Quartett“-Sendungen anfangs toll zu sehen, wie Literatur und Literaturkritik im Fernsehen allein durch das gesprochene Wort und ohne Schnickschnack funktionieren konnten; so waren auch die gestenreichen Daumenraufs und Daumenrunters von Reich-Ranicki zunächst amüsant. Doch bald hatte man genug von seinen keinen Widerspruch duldenden Urteilen und den stetig wiederkehrenden Einlassungen zu den Manns oder Fontane. Man bemerkte, dass Sigrid Löffler, der jeweilige Gast und selbst Hellmuth Karasek viel fundierter und um echte Kritik bemühter an die Bücher herangingen, und man erinnerte sich dann auch, als junger Literaturinteressierter viel lieber die um Wahrhaftigkeit ringenden Rezensionen eines Joachim Kaisers gelesen zu haben, die genialisch-irren eines Fritz J. Raddatz’ oder die vorsichtig-ausgewogenen eines Reinhard Baumgarts. Dass es bei Literaturkritik doch um mehr gehen musste, als sich zwischen den Polen „langweilig“ und „glänzend geschrieben“ zu bewegen. Ja, dass ein Literaturkritiker nicht die Wirkung seiner Kritik vor Wahrhaftigkeitsüberlegungen stellen sollte, er sich nie wichtiger als den Gegenstand seiner Kritik nehmen sollte. Und auch, dass ein vermeintlich leidenschaftliches Hochschreiben oder Hochschreien genauso wie das Niederschreiben oder Niederschreien nur die argumentative Leere so mancher Kritik übertüncht. „Nein“, überrascht Marcel Reich-Ranicki in dem von ihm gewohnt unterhaltsam und anekdotenreich geführten Gespräch mit Wittstock noch, er habe immer versucht Literatur unter die Leute zu bringen: „Ich wollte nicht das machen, was die Elke Heidenreich heute macht, das hat mit Literaturkritik nichts zu tun.“ Dass er einer Sendung wie „Lesen!“ erst den Weg gebahnt haben könnte, kommt ihm nicht in den Sinn, und auch, dass die von ihm rundheraus „verehrte“ Heidenreich besser und komplexer sein kann, wenn sie in der FAZ zwei Seiten über Gottfried Benn voll schreibt.

So könnte es eines Tages die Crux von Marcel Reich-Ranicki sein, dass sein Leben und die spätere Medienpräsenz seine literaturkritische Arbeit und Bücher weit überstrahlen; dass er lediglich als „Popstar der Kritik“ in die Literaturgeschichte eingeht und es „seine populistische Lust an provokativer Grellheit und Wirkung“ (Reinhard Baumgart) ist, die dem von ihm immer anvisierten großen Publikum in Erinnerung bleibt.