: „Bolivien steht am Rand eines Bürgerkrieges“
Unter Präsident Mesa ist die Lage in Bolivien eskaliert. Die Linke fordert die Nationalisierung der Öl- und Gasvorkommen, die USA spielen mit der Idee einer Intervention. Aber auch die Linke in La Paz ist tief gespalten
taz: Herr Olivera, Präsident Carlos Mesa sieht Bolivien am Rande eines Bürgerkriegs. Sie auch?
Oscar Olivera: Ja. Wir haben Mesa schon vor einem Jahr gewarnt. Viele fanden das übertrieben. Jetzt sagt er das Gleiche – und ihm glaubt man. Dabei hat diese Lage viel mit ihm zu tun.
Warum?
Er hat die Agenda vom Oktober 2003 nicht erfüllt, die die Nationalisierung der Erdöl- und Erdgasreserven und die politische Reform vorsah. Er war unentschlossen: Zuerst wollte er ohne Parteien regieren, dann mit ihnen, dann hat er die Interessen der Multis vertreten und die Anweisungen der US-Botschaft erfüllt. Die Leute haben es satt. Sie sagen nicht nur, Mesa soll weg, sondern: Alle sollen weg!
Wie agieren die USA in Bolivien?
Als Supermacht. Sie mischen sich offen und zynisch in unsere Staatsgeschäfte ein, bestimmen Minister, gegen andere legen sie ihr Veto ein. Jetzt unterstützen sie Hormando Vaca Díez, der Mesas Nachfolger werden soll – weil Mesa nicht mehr in der Lage ist, Ordnung herzustellen und die Interessen der transnationalen Konzerne zu verteidigen. Díez hat sich Stunden vor Mesas Rücktrittsankündigung am Montag mit Militärs in der Residenz des US-Botschafters versammelt.
Wird Vaca Díez denn tatsächlich Präsident werden?
Kaum. Die Demonstranten werden das nicht zulassen, denn es wäre die Rückkehr jener Traditionsparteien, die fast 20 Jahre lang Arbeiter und Bauern massakriert, die Plünderung unserer Ressourcen erlaubt und unsere Staatsfirmen verscherbelt haben. Seit dem „Wasserkrieg“ 2000 sind wir in vielem vorangekommen. Diese fünf Jahre werden wir nicht einfach über Bord werfen.
Die Oberschicht aus Santa Cruz, zu der Vaca Díez ja gehört, sieht das anders …
Ja, die Konfrontation kann eskalieren, und die US-Regierung will das. Angeblich um eine Konfrontation zwischen Bolivianern zu vermeiden, wird eine Besatzung durch Blauhelme vorbereitet. Die könnten garantieren, dass die Multis weiterhin Gas und Öl aus dem Land schaffen, vor allem nach Argentinien und Brasilien.
Die wichtigste Rolle spielt dabei die brasilianische Staatsfirma Petrobras …
Das ist ein Multi wie alle anderen.
Was heißt Nationalisierung der Ressourcen? Eine Enteignung der Ölfirmen oder Abgaben von 50 Prozent auf die Produktion, wie sie der bolivianische Sozialistenführer Evo Morales fordert?
Erstens die Annullierung aller Verträge. Im April hat unser Verfassungsgericht festgesellt, dass alle Verträge, die nach der Privatisierung 1996 unterschrieben wurden, illegal sind, weil sie nicht vom Kongress ratifiziert wurden. Zweitens die volle Rückgewinnung der Souveränität über unsere Erdöl- und Erdgasreserven, die jetzt in den Händen der Multis sind. Drittens muss die staatliche Erdölfirma sofort auf die Öl- und Gasfelder gehen und anfangen zu kontrollieren. Schließlich müssen neue Verträge abgeschlossen werden, in denen Abgaben von mindestens 50 Prozent festgelegt werden. Sie sehen, wir sind pragmatisch. Es geht nicht um Enteignung.
Und was versprechen Sie sich von einer verfassunggebenden Versammlung?
Mit der Nationalisierung hätten wir eine finanzielle Basis, um die Probleme des Landes zu lösen. Wir wollen ein neues Staatswesen für alle und nicht wie jetzt ein Parteienmonopol. Es geht um Partizipation, um die gerechte und transparente Verteilung des Reichtums, eine Form des Zusammenlebens zwischen den bislang Ausgeschlossenen und der Oligarchie, die seit 500 Jahren an der Macht ist.
Doch die Linke ist gespalten: Evo Morales möchten die nächsten Wahlen gewinnen, Jaime Solares vom Gewerkschaftsdachverband und andere wollen eine Revolution und befürworten die Beteiligung „progressiver“ Militärs.
Beide sollten bescheidener sein. Vor allem Solares treibt sein ganz persönliches Projekt voran, dazu sind wir nie befragt worden. Die Arbeiterbewegung ist schwach. In der Regierung hat das Militär nichts verloren, wir Bolivianer haben genug Erfahrungen damit gesammelt. Morales hingegen versucht, einen friedlichen Übergangsprozess zu bewahren, aber ohne die Spielregeln substanziell zu verändern. Er vertraut dem parlamentarischen System zu sehr. Die Basis hat da weniger Illusionen, sie verlangt viel weitergehende Reformen, und nicht erst in hundert Jahren.
Wie beurteilen Sie die Vermittlungsversuche der katholischen Kirche?
Sie hat wieder den Fehler begangen, nur mit den Politikern zu sprechen, das war ein Rettungsring für das alte politische Modell. Wenn sie die Meinung der Bevölkerung stärker berücksichtigt, könnte es vielleicht noch funktionieren.
Wie geht es jetzt weiter?
Ich sehe schwarz. Die alten Institutionen werden keine Lösung bringen. Eine offene Konfrontation und eine Intervention werden immer wahrscheinlicher.
INTERVIEW: GERHARD DILGER