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Archiv-Artikel

RALPH BOLLMANNPOLITIK VON OBEN Das verschmähte Medium

POLITIKER FINDEN DAS FERNSEHEN UNGLAUBLICH WICHTIG – UND SCHAUEN SELBST KAUM HIN. EIN FALL VON ABGEHOBENHEIT? SCHLIMMER, VON WÄHLERVERACHTUNG

Lange habe ich gedacht, ich bin der Einzige. Bild, BamS, Glotze seien die Leitmedien des politischen Berlins, hatte ein früherer Bundeskanzler mal behauptet. Seitdem hatte ich ein schlechtes Gewissen. Müsste ich nicht öfter mal in die Zeitung schauen, deren unübersichtliches Layout meine Konzentrationsfähigkeit stets überfordert? Sollte ich mir einen Alarm auf das Handy legen, damit ich vom abendlichen Hintergrundgespräch pünktlich zu den Tagesthemen eilen kann? Oder gar den freien Abend opfern, um ihn einsam im stillen Kämmerlein mit Frank Plasberg zu verbringen?

Was die Bild-Zeitung betrifft, trug ich meine Skrupel zu Recht mit mir herum. Die liest hier wirklich jeder. Aber Fernsehen? Auf die drei Stunden, die ein Durchschnittsdeutscher vor dem Bildschirm sitzt, kommt im Regierungsviertel keiner. Dass Parteipolitiker oder Journalistenkollegen, die man zur besten Sendezeit auf Terminen trifft, im selben Augenblick nicht fernsehen können – das ist eigentlich ganz offensichtlich. Aber die Bedeutung, die ebendiese Leute dem von ihnen verschmähten Medium zumaßen, versperrte mir lange den Blick auf die nahe liegende Erkenntnis.

Im Zusammenhang mit Dienstfahrzeugen und Arbeitsessen war zuletzt oft zu hören, der Berliner Politikbetrieb sei „abgehoben“. Das war eine richtige Feststellung, aber mit falscher Begründung. Die Liebe zum Auto teilen die Politiker mit ihren Wählern, unter denen zugleich der Anteil derer wächst, die einen guten Wein von einem schlechten zu unterscheiden wissen – wie der zitierte Kanzler zu sagen pflegte. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Politiker kaum fernsehen.

Das erklärt vieles. Zum Beispiel die Selbstgewissheit, mit der Politiker aller Parteien vor laufender Fernsehkamera stundenlang Wahlkampfstanzen von sich geben, die sie als Zuschauer nicht fünf Minuten lang ertragen könnten. Die Konsequenz, mit der sie beim Aufleuchten der roten Lampe jeden originellen Gedanken aus ihren Auslassungen verbannen. „Abgehoben“ ist dafür ein viel zu harmloser Ausdruck. Eher spricht daraus die Verachtung der Politiker gegenüber all jenen, die mit ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen wissen, als sich im Fernsehen Politiker anzuschauen.

Vermutlich war das der eigentliche Kern der Empörung über die Abendgesellschaft im Kanzleramt: dass die 25 geladenen Gäste nicht taten, was ein anständiger Bundesbürger um diese Uhrzeit tut – vor dem Fernseher zu sitzen.

■ Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz. Foto: Archiv