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Archiv-Artikel

Wahnsinn mit Ansage

Beglückend und restlos gelungen: Nach „Woyzeck“ inszeniert Laurent Chétouane Georg Büchners „Lenz“ am Schauspielhaus und stellt den Texte wieder unbekleidet und scharfkantig in den Raum, ohne dabei eindimensional zu werden

von Christian T. Schön

„Ton“ ist nach fünf Minuten Schweigen das erste Wort. Es steht auf einem Kleiderschrank. Das Fenster wird geöffnet, das Tatütata der Innenstadt: „Er“ ist das erste gesprochene Wort. Er. Lenz. 26 Jahre. Schwarze Hose. Weißes Hemd. Magerer Körper. „Sagte“ – das zweite Wort, ein Verb – Doppelpunkt: Nicht Schönheit oder Hässlichkeit, nein, das Gefühl, „dass, was geschaffen sei, Leben habe“, ist „das einzige Kriterium in Kunstsachen“.

Mit diesem Manifest eröffnet Laurent Chétouane seinen Lenz am Schauspielhaus. Eine erstaunliche Entscheidung, denn Georg Büchners Vorlage beginnt mit einer Bergwanderung, die Wolken ziehen sich zu, und bei Lenz bricht der Wahnsinn aus. Der Wahnsinn. Immer wieder werden Chétouanes Figuren verrückt (Woyzeck) oder depressiv (4.48 Psychose). Paralysiert und medikamentiert stehen sie auf der Bühne. Der Text wächst aus ihnen heraus, als könnten sie den Keim nicht unterdrücken. Der Wahn folgt als natürliche Entwicklung. Als sei nichts dabei, dass sie betrogen, verletzt, verzweifelt oder einsam seien.

Regisseur Laurent Chétouane folgt dem klinischen Blick des Mediziners Büchner. Die Bühne karg. Ein Schrank. Ein Glas. Lichtregler. Lautsprecher. Ein Stuhl. Der Raum ist für den Sprechtext reserviert. Fabian Hinrichs spricht und spielt den Lenz. Auf seiner Zunge wird Büchners Text lebendig. Mit Nuancen wölbt er die Worte. Sonor. Rau. Sanft. Steif. Mit Bass. Ohne. Mit unterirdischem Brodeln in der Stimme. Entkräftet. Tot. Spricht im Liegen. Füllt den Raum mit den Menschen, die er anspricht. Macht ein paar lässige Gesten. Sogar drei, vier Gags sind drin: Die Assistentin gießt Wasser nach. Lenz spult das Lied auf dem CD-Spieler vor. Knipst das Licht an und aus. (Hat Hinrichs so was bei Castorf und Schlingensief gelernt?)

Der Wahnsinn kommt nach einer Stunde mit Ansage, als These ins Spiel. Lenz springt aus dem Fenster. Steckt den Kopf in den Lautsprecher. Fesselt sich an die Heizung. Wütet, bis die Späne fliegen. Ist er nun wahnsinnig? Nur im Spiegel von dem, was wir mehrheitlich „Wirklichkeit“ nennen würden, könnte Lenz‘ Wahnsinn deutlich werden. Der Stadtlärm, der durchs Fenster schallt, und das Publikum, das in den Pausen raschelt, reichen da nicht aus. Nicht die Showeffekte lösen den Wahnsinn aus. Nicht das Reden und Sprechen an sich. Es ist Büchners einzigartiger, der von Hinrichs geformte Text. In den wirkungsvoll gesetzten Sprechpausen umkreist er Lenz und infiltriert den Zuschauer. Wie Denkanstöße.

Der Wahnsinn wird damit zum Konstrukt des Beobachters, Zuschauers, Lesers. Lenz ist die perfekteste und schönste Chétouane-Inszenierung am Schauspielhaus. Ausbalanciert wie nach einer mathematischen Formel für Schönheit stellt er die Sprache, dieses Urstilmittel des Theaters, ins Zentrum. Und die Rechnung geht restlos auf. In Fabian Hinrichs hat er einen Traumpartner gefunden (für beide war es eine „Wunschzusammenarbeit“), der seine Sprechtextkonzentration kompromislos teilt.

Am Ende wirft Lenz einen geschäftigen Blick auf die Armbanduhr. Sagt: „Oh, so langweilig! Ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll.“ – Die Kritik an der zu Unrecht vermaledeiten „Woyzeck“-Inszenierung hat Laurent Chétouane nicht vergessen. Auch diesmal saßen im Publikum wieder Theater-Schläfer! Tief und fest...

Nächste Aufführungen: 19., 23., 24.6., 20 Uhr, Schauspielhaus