: Der Assistent
Der Zufall will es, dass der Künstler und Schauspieler Jürgen Draeger in seinem Leben ein paar berühmten Leuten über den Weg läuft: Willy Brandt, Rainer Werner Fassbinder, Bruno Balz. Was sie miteinander verbindet? Jeder verkörpert einen Teil der deutschen Geschichte. Wie Draeger übrigens auch
VON WALTRAUD SCHWAB
Jürgen Draeger gibt Rätsel auf. Bei der ersten Begegnung in seiner Wohnung trägt er Anzug. Stattlich wirkt der Künstler darin. Bei der nächsten im Renaissance-Theater kommt er als schlaksiger Bohemien mit Schlapphut und offenem Hemd daher. Bei der dritten, im Café am Ludwigkirchplatz, sieht er wie ein Berliner Arbeiterkind aus, das in die Jahre gekommen ist. Alt und gleichzeitig auf eine rohe Weise bedürftig.
„Ich habe Willy Brandt gemalt“, sagt Jürgen Draeger. Er sagt es trotzig, aber mit Stolz. „1990 war das.“ Drei der Bilder des Politikers hängen in seiner Wohnung am Hohenzollernplatz. Mal wirkt der Altkanzler ganz offen darauf, mal erschöpft, mal in sich gekehrt und verletzlich. „Ein Triptychon“ nennt der Künstler die Portraits und stellt auf diese Art eine Verbindung her zu mittelalterlichen Altären.
Brandt ist nicht die einzige Berühmtheit, der Draeger in seinem Leben begegnet ist: Wo viele Identitäten sind, gibt es auch viele Geschichten. Vor der Wand mit den Bildern des Politikers steht ein schwerer, großer Holztisch, an dem viele Jahre früher eine ganz andere Geschichte begann. Als Draeger damals, 1960 war’s, zum ersten Mal vor diesem Tisch steht, sitzen Zarah Leander, Heinz Rühmann, Grete Weiser, Ilse Werner daran. Zarah Leander winkt ihn, den Jüngling von damals, zu sich und stopft ihm ein Stück Kuchen in den Mund. Draeger überkommt Ekel und Panik. Er rennt aus der Wohnung und spuckt den Bissen auf der Straße wieder aus. Den Tisch allerdings, den erbt er später.
Aber der Reihe nach. Hier geht es erst mal um Willy Brandt. Ausgerechnet Draeger durfte den ehemaligen Bundeskanzler 1990 zehn Tage lang auf seiner Fahrt durch die DDR begleiten und zeichnen. Draeger fährt mit dem Politiker im Zug, teilt mit ihm das Abteil, nächtigt in den gleichen Hotels, sitzt mit ihm am Frühstückstisch, steht neben ihm, wenn er zu den Ostdeutschen spricht.
Selten ist ein Künstler so nah an den Politiker mit den vielen Gesichtern herangekommen wie er. Dass er in einem Augenblick nie aussah wie im nächsten, das sagen alle, die ihn zeichneten und fotografierten. Auf jedem Bild sieht er anders aus.
Brandt und die Künstler – das ist ohnehin ein Kapitel für sich. Das Gemälde, das Georg Meistermann 1977 für die Galerie im Kanzleramt, in der alle Bundeskanzler seit Adenauer ausgestellt sind, schuf, zeigt Brandt ohne ausgearbeitete Konturen. Politische Gegner versuchten, Profit aus der expressionistischen Malweise zu schlagen. Wie Frankenstein sehe Brandt aus, meinte einer, ein anderer soll räsoniert haben, dass den Deutschen ein Kanzler ohne Gesicht nicht zuzumuten sei. Nach dieser Episode hat Brandt keinem Künstler mehr Modell gesessen. Nur Draeger eben. „Wir brauchen uns nichts erzählen, wir kennen uns schon“, habe Brandt gesagt, als sich die beiden zum ersten Mal treffen.
Das Triptychon von Brandt, das auf der DDR-Reise entsteht, wird noch im selben Jahr im Rathaus Tempelhof mit anderen Bildern des Künstlers gezeigt. Mit einem Eklat geht die Schau über die Bühne. Denn kurz vor der Eröffnung lässt der damalige CDU-Bezirksbürgermeister die Portraits abhängen und nagelt Fotos verdienter Tempelhofer an die Wand. Seine Begründung: Willy Brandt habe für Tempelhof nichts getan. Auf einstweilige Verfügung muss abseitig eine separate Wand aufgestellt werden, auf der die Bilder dann doch zu sehen sind. Bei der Pressekonferenz meint der Tempelhofer Kunstamtsleiter, dass dies die schlechteste Ausstellung des Jahres sei. „Daraufhin hab ich ihm eine in die Fresse gehauen. Ich war so hoch geladen und gedemütigt.“ Draeger wird wegen Körperverletzung angeklagt und verurteilt.
Skandal und Erfolg allerdings verbinden sich gern. Fast die gesamte Ausstellung wird von einem amerikanischen Kunstsammler gekauft. Als die Brandt-Bilder verschifft werden, packt auch Draeger seine Koffer und reist jahrelang um die Welt. In der Wüste sucht er die Farben, in Asien den Buddhismus, auf Hawaii seine Sehnsucht, auf Madagaskar sein Glück.
Über seine Abenteuer spricht er nicht viel. Hat er kein Geld, malt er. Aber eigentlich hat er Geld, schließlich war Draeger einmal ein gefragter Schauspieler. Außerdem hatte er bereits den Tisch geerbt, an dem Zarah Leander ihm den Kuchen in den Mund stopfte. Alles, was um den Tisch herum stand, gehörte ihm auch. Sogar das Haus.
Vor drei Jahren ist Draeger doch wieder nach Berlin zurückgekommen. „Weil ich in Berlin etwas finden muss“, sagt er. Was? Den Vater? Die Heimat? Keine Antwort. Dass er die Portraits von Willy Brandt mit im Gepäck hatte, das erzählt er aber schon. Für ein Vielfaches des ursprünglichen Preises hat er sie dem amerikanischen Kunstsammler wieder abgekauft.
Draeger ist einer jener Entwurzelten, dem die Geschichte ihren Stempel aufgedrückt hat, nur dass er sich, wie viele Kriegskinder, nicht daran erinnern soll. Er ist 1940 geboren, in Berlin. Vaterlos. Seine erste Kindheitserinnerung: Wie er als Dreijähriger nach einem Bombenangriff aus einem brennenden Keller kriecht, allein zum Haus rennt, in dem er gewohnt hat, es in Flammen sieht und verzweifelt nach seiner Mutter schreit. Sie lebt, aber das kann er nicht wissen. „Der Schrei, dieser Schrei, verfolgt mich bis heute.“
Nach dem Krieg wohnt er mit Mutter und Schwester in einer Kriegsruine. Sie Trümmerfrau, er Kindermädchen für seine jüngere Schwester. Als ein Stiefvater auftaucht, beginnt neues Unheil: Draeger verstummt.
Nichts deutet darauf hin, dass Draeger später in seinem Leben einigen berühmten Leuten über den Weg laufen wird. Willy Brandt eben, auch dem Regisseur Rainer Werner Fassbinder und dem Liedtexter Bruno Balz. Einsame Männer. Heimatsucher. Vatersucher. Wie Draeger. Der Erste ist als Politiker in die Geschichte eingegangen, der Deutschland wieder glaubhaft gemacht hat in der Welt. Der Zweite hat mit seinen Filmen bundesrepublikanische Tabus gebrochen. Der Dritte hat den Deutschen die Durchhalteschlager „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ und „Davon geht die Welt nicht unter“ geschenkt. Am Tisch des Liedermachers dinierten nach dem Krieg Zarah Leander und die anderen Unterhaltungsgrößen, die das Dritte Reich unbeschadet überstanden hatten. Seinem Wesen nach ist Draeger der Assistent der drei Männer. Bezogen auf sein eigenes Schaffen, assistieren sie ihm. Erst in seiner Biografie aber laufen die Fäden der drei auch zusammen.
Als Künstler ist Draeger Autodidakt. Zum Malen ist er in den drei Jahren gekommen, in denen er nicht gesprochen hat. Sein Stiefvater, ein Schläger, hat ihn krumm gehauen. „Nicht mehr zu sprechen, das war meine einzige Chance, von meiner Mutter gehört zu werden.“, sagt er. „Erhört“ trifft es mehr.
Sein erstes öffentlich gezeigtes Bild, das auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1960 in den Messehallen aushängt, wird von Bruno Balz, dem Dichter der Gassenhauer, gekauft. Als Draeger es dem fast 40 Jahre Älteren bringt, beginnt eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden. Eine Vater-Sohn-Geschichte? „Nennen Sie mich seinen ‚Lebensgefährten‘.“ Draeger mag das Wort. „Es spricht von so vielem: von Vertrauen, Loyalität, von Geistesverwandtschaft, von Liebe.“ Nicht von Sex. „Es sind die anderen, die das so sehen wollen“, sagt Draeger.
Balz ist schwul. Das ist auch den Nazis bekannt, denn vor 1933 engagierte sich der Liederschreiber für Homosexuelle. „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Das ist auch einer seiner 1.000 Schlager, die er geschrieben hat. Von Balz’ Leben erfährt Draeger trotz der Nähe zu ihm jedoch nur Bruchstücke. So viel ist klar: Die Texte für die großen Durchhalteschlager entstanden 1941 in den Katakomben des Prinz-Albrecht-Palais. Reste der Grundmauern des Gebäudes sind heute auf dem Gelände „Topographie des Terrors“ zu sehen. Mit Sätzen wie „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ habe Balz sich nach seiner Verhaftung in den dortigen Folterkellern am Leben gehalten. Weil die Unterhaltungsindustrie ihn brauchte, ist er am Ende davongekommen.
1987 stirbt Balz. Seine Geschichte will er ganz dem Vergessen anheim stellen. Deshalb verfügt er, dass sein Nachlass zehn Jahre lang nicht geöffnet werden darf. Erst seit Draeger wieder in Berlin lebt, lüftet er nach und nach die Geheimnisse um Balz.
Nicht nur gemalt hat Draeger, auch Schauspieler ist er. Durch Balz kennt er die Film- und Unterhaltungsindustrie. Ihm allerdings liegt weniger der Schmus und mehr der Berliner Realismus. In Filmen der 60er-Jahre spielt er Ganoven und kleine Kriminelle. Abgeklärt und unverwurzelt sind sie. Wie er.
Seine Unzugänglichkeit macht ihn für Fassbinder interessant. In „Berlin Alexanderplatz“ spielt er mit, in „Katzelmacher“, „Angst essen Seele auf“ und anderen Filmen des Regisseurs. Auch in „Lili Marleen“. Balz hatte einst Lieder für Lale Andersen geschrieben.
Richtig einverleiben lässt sich Draeger von Fassbinder nicht. „Fassbinder hatte eine Feigheit vor Gefühlen. Ich nicht.“ Als der Regisseur den Film „Querelle“ dreht, zeichnet Draeger die Protagonisten und Szenen mit. „Die morbide Sinnlichkeit interessiert mich. Im Film kommt sie nicht vor“, meint er. Eine Sammlung von Bildern entsteht, auf denen alle Männer schwul und alle Frauen Prostituierte sind. Die Bilder sind kalt.
Später werden die Zeichnungen als „Querelle-Zyklus“ in einem Buch verlegt. Willy Brandt bekommt es zum Jahreswechsel 1989 geschenkt. Die Bilder gefallen ihm. Er nimmt Kontakt zum Künstler auf. „Wir brauchen uns nichts zu erzählen, wir kennen uns schon.“ So schließt sich der Kreis.
Wenn Draeger von seinem Leben erzählt, wirkt er losgelöst und leer. Was macht Sie traurig? Die Frage, einmal ausgesprochen, will Draeger wegfegen mit der Hand. „Das wissen Sie doch.“ Aus seiner Sicht wurde den ganzen Abend über nichts anderes geredet. Fassen lässt es sich dennoch nicht. Draeger hat das Konkrete zu sehr mit gedrechselten Worten umkreist. Mit „Sehnsuchtstransfer“ beispielsweise, oder mit dem Satz: „Ich bin am Feuer erfroren. Dadurch habe ich überlebt.“ Welches Feuer? – Die Leidenschaft? Die Liebe? Das Inferno des Krieges? Keine Antwort darauf. Nach einer langen Pause, während der Draeger seinen Blick über die Bäume auf dem Ludwigkirchplatz schweifen lässt, die im Licht der Straßenlaternen gespenstisch wirken, sagt der 65-Jährige dann doch ganz leise: „Meine verlorene Kindheit macht mich traurig.“ Es klingt wie ein Eingeständnis von Schuld.