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Archiv-Artikel

„Zu klein, um sich zu helfen“

Knapp 400 Kindesmisshandlungen sind im vergangenen Jahr bei der Polizei angezeigt worden – die Dunkelziffer könnte jedoch bis zu 20-mal höher liegen, sagt die Kriminalkommissarin Gina Graichen

INTERVIEW PLUTONIA PLARRE

taz: Frau Graichen, auf Plakaten, die die Polizei kleben lässt, ist eine Babyflasche vor einem Grab zu sehen. Die Inschrift lautet: „Geboren, gequält, gestorben“. Was hat Ihre Dienststelle zu dieser Aktion bewogen?

Gina Graichen: Bei unseren Ermittlungen wegen Kindesmisshandlung stellen wir immer wieder fest, dass Mieter in Wohnhäusern durchaus mitbekommen, wenn bei den Nachbarn etwas nicht stimmt, dass deren Kinder nicht ordentlich versorgt werden, verwahrlost sind oder die Wohnung riecht. In der Regel schiebt es jedoch der eine auf den anderen, den Behörden Mitteilung zu machen. Manchmal wird es auch versucht, aber die Meldung bleibt im Ämterdschungel hängen. Deshalb habe ich auch meine direkte Durchwahl bei der Polizei auf den Plakaten als Kontaktadresse angegeben.

Im letzten Jahr sind in Berlin 398 Kindesmisshandlungen angezeigt worden. 2001 waren es noch 267. Stimmt der Eindruck, dass die Taten zunehmen?

Auf den ersten Blick mag das so erscheinen. Die Steigerung ist aber darauf zurückzuführen, dass mehr Anzeigen erstattet werden, also mehr Taten aus dem Dunkel- ins Hellfeld rücken. Genau das soll die Plakataktion ja auch bezwecken. Auf dem Gebiet gibt es noch keine Forschung. Es ist aber davon auszugehen, dass die Zahlen noch höher sind als bei sexuellem Kindesmissbrauch. Dort wird von einem Dunkelfeld von sechs bis zwanzig unentdeckten Taten pro angezeigtem Fall gesprochen.

Sie sind schon seit zwanzig Jahren als Ermittlerin auf dem Gebiet tätig. Gibt es Taten, die Sie noch besonders berühren?

Mir geht jedes Mal sehr nahe, wenn ein Kind zu Tode kommt. Davon habe ich sehr viele gesehen. Bilder wie die von dem zweieinhalbjährigen Jannick, werde ich nicht mehr los. Der Junge hat mit seiner Mutter und seinen beiden älteren Brüdern in einer Wohnung gelebt. Der neue Lebensgefährte der Mutter – die Frau hatte den angehenden Erzieher in Jannicks Kita kennen gelernt – hat den Jungen systematisch verprügelt. Als Erziehungsmaßnahme, wie er sagte, weil Jannick noch nicht trocken war. Er wollte einen harten Mann aus dem Kind machen. Auch die Brüder hat er aufgefordert, den Kleinen mit ihren neuen Boxhandschuhen, die sie zu Weihnachten bekommen haben, als Punchingball zu benutzen. Seine „Erziehungsmaßnahmen“ hatte er auch fotografiert. Zum Schluss ist der Junge mit dem Kopf ganz übel gegen einen Schrank gestoßen worden. An der Verletzung ist er dann verstorben.

Ist Kindesvernachlässigung ein Unterschichtsphänomen?

Dort wird es zumindest häufiger registriert. In der Regel handelt es sich um Leute, die sehr phlegmatisch und problembehaftet sind. Da kommt verschiedenes zusammen: Null-Bock-Haltung, keine erkennbare Zukunft, teilweise in dem Sinne vorgeschädigt, dass man als Kind selbst in einem verdreckten Haushalt lebte und von den Eltern nicht versorgt worden ist.

Misshandeln Mütter ihre Kinder genauso wie Väter oder Stiefväter?

Da gibt es keinen großen Unterschied.

Warum setzen solche Leute Kinder in die Welt?

Menschen, die selbst aus kaputten Elternhäusern kommen, leben oftmals in der Illusion von der Familie als heiler Welt, so, wie man das immer so schön im Fernsehen sieht. Vor allem die Jüngeren haben aber keine Vorstellung davon, was es bedeutet, ein Kind zu haben. Dass man 18 Jahre dafür verantwortlich ist. Dass es Forderungen stellt, schreit, etwas zu essen will und gewickelt werden muss. Häufig spielen auch die Lebenspartner nicht mit. Statt die Frau zu unterstützen, gehen sie lieber einen trinken. Aber es gibt auch viele Familien, die Kinder in die Welt setzen, weil das mit Kindergeld verbunden ist.

Um ihren Lebensstandard anzuheben?

Den eigenen Lebensstandard. Das Geld wird in Alkohol und andere Annehmlichkeiten umgesetzt. In technische Finessen wie Fernseher und DVD-Player zur Verschönerung der Freizeit. Die Kinder stören da nur. Wir haben es relativ häufig, dass die Kleinen in einem Raum eingesperrt werden. Kinderzimmer wird das genannt. Die Tür wird von außen mit extra Haken und Schlüsseln verschlossen, damit sie nicht aus eigenem Antrieb raus können. In dem Raum sind sie vollkommen sich selbst überlassen, müssen dort sogar ihre Notdurft verrichten. Keiner spricht mit ihnen, geschweige denn, dass sie emotionale Zuwendung bekommen. Manchmal ist noch nicht einmal Spielzeug vorhanden.

Das sind wohlbemerkt keine Einzelfälle?

Richtig. In jedem Bezirk in Berlin gibt es solche Wohnungen. Die Kinder sind meistens zu klein, um sich selbst helfen zu können. 60 Prozent der Betroffenen sind jünger als drei Jahre.

Kindesmisshandlungen in der Oberschicht werden nur selten angezeigt. Woran liegt das?

Dort kann man das besser verheimlichen. Man man wählt lieber den subtilen Weg: Kindern Angst machen, sie unter Druck setzen, Drohen, Kuscheltiere kaputt machen. Nach außen hin hinterlässt das keine Spuren, aber das Kind nimmt es mit fürs Leben.

Lassen sich Mitarbeiter des Jugendamts zu oft von Eltern an der Haustür mit Geschichten abspeisen?

Das kommt durchaus vor. In einem Fall hieß es: Wir haben Hausbesuche gemacht, sind aber nicht in die Wohnung gelassen worden. Das hat zum Hintergrund, dass alle Hilfe freiwillig ist. Wenn die Eltern nicht wollen, darf das Jugendamt nicht mehr machen – es sei denn, es wird Gefahr für Leib und Leben des Kindes gesehen. Seit Einführung des Gewaltschutzgesetzes kommen Schutzpolizisten aber leichter in Wohnungen, um Strafanzeigen wegen häuslicher Gewalt aufzunehmen, und sehen somit eher, was dort los ist.

Heißt das, die Polizei ist diejenige, die am meisten Fälle aufdeckt?

Im Prinzip ja. In der Bevölkerung herrscht immer noch die Auffassung vor: Familie ist Privatsphäre, in die man sich nicht einmischt. Seit August 2004 ist allerdings ein leiser Wechsel festzustellen. Dem Zeitpunkt also, seitdem wir mit unserer Plakataktion so massiv an die Öffentlichkeit gegangen sind.