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Archiv-Artikel

Arme Kinder sind arm dran

Der Fall einer jungen Mutter, die ihr Baby misshandelt hat, bewegt die Stadt. Doch solche Einzelfälle stehen für zahllose andere, weniger spektakuläre. Zwischen Armut und Gewalt gibt es dabei einen klaren Zusammenhang, sagen Kinderschützer

VON PLUTONIA PLARRE

Blaue Flecken im Gesicht, Blutungen in den Hirnhäuten, ein Blutgerinnsel im Kopf – die Misshandlung eines zwei Wochen alten Säuglings hat die Stadt erschüttert. Das zumindest suggeriert die Boulevardpresse. „Berlins böseste Mutter“, schlagzeilte die B.Z. gestern und präsentierte auf der Titelseite ein Foto der 25-jährigen Kindesmutter im Großformat.

Die Frau steht im Verdacht, ihr schreiendes Baby bis zu Bewusstlosigkeit geschüttelt zu haben, weil sie sich überfordert fühlte. Der Haftbefehl gegen sie ist am Donnerstag unter Meldeauflagen außer Vollzug gesetzt worden. Ob der Säugling überlebt, wird sich erst in den nächsten Tagen herausstellen, wenn die Schwellung im Gehirn zurückgegangen ist.

„Fälle wie dieser sind die Spitze vom Eisberg“, sagt die Kriminalhauptkommissarin Gina Graichen, die das Kommissariat „Delikte an Schutzbefohlenen“ leitet. Wenn Kinder zu Tode kommen, so ihre Erfahrung, ist die Empörung der Öffentlichkeit stets groß. Von den zahllosen anderen Fällen, wo die Verletzungen oftmals nicht sichtbar sind, die Folgen die Kinder aber ein Leben lang begleiten, rede dagegen kaum jemand, so Graichen.

Im vergangenen Jahr sind in Berlin 398 Kindesmisshandlungen angezeigt worden. 2001 waren es 267 Fälle. Die Dunkelziffer ist laut Graichen noch höher als bei sexuellem Missbrauch. Dort geht die Polizei davon aus, dass auf einen angezeigten Fall 6 bis 20 unentdeckte Taten kommen.

Im August 2004 hat die Polizei deshalb eine Plakataktion gestartet, um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Auf einem sind drei Kinder in einer vermüllten Wohnung zu sehen. Unter dem Bild heißt es: „Verdreckt, hungrig, allein gelassen“. Ein anderes zeigt eine Babyflasche vor einem Grab mit der Inschrift: „Geboren, gequält, gestorben“.

Damit die Hinweise aus der Bevölkerung nicht im Ämterdschungel untergehen, hat Graichen ihre Durchwahlnummer auf die Plakate drucken lassen – mit Erfolg. Sei Beginn der Aktion sind rund 100 Anrufe bei ihr eingegangen. „Nicht jeder Anruf hat zu einer Anzeige geführt, aber an den Schilderungen war immer etwas dran.“ Trotzdem ist es immer noch die Polizei, die die meisten Fälle von Kindesmisshandlungen aufdeckt. „In der Bevölkerung herrscht immer noch die Auffassung vor: Familie ist Privatsphäre, in die man sich nicht einmischt“, so die Erfahrung der Kriminalhauptkommissarin.

Kindesmisshandlung kommt in allen Schichten vor, doch in sozial schwachen Familien werden deutlich mehr Fälle registriert. „Es gibt ganz klar einen Zusammenhang zwischen Armut, Vernachlässigung und Gewalt“, sagt Sabine Walther, die Geschäftsführerin des Landesverbandes des Deutschen Kinderschutzbundes. Arme Familien wohnen beengter, sind mehr mit sich selbst beschäftigt und besonders gestresst.

Berlin sei bereits die Hauptstadt von Kinderarmut und Kindesmisshandlung, aber es werde noch schlimmer kommen, sagt Walther. Die Polizei leiste zwar hervorragende Öffentlichkeitsarbeit, aber die Eltern brauchten eher Hilfe als Strafen – nicht nur vonseiten des Jugendamts. „Wenn ein Nachbar sieht, dass eine junge Mutter völlig fertig ist, könnte er sie fragen, ob er ihr was abnehmen kann, statt die Polizei zu rufen“, so Walther.

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