: Der Kunststoffschlucker
MÜLL Tüten, Flaschen, Spielzeug: Alles Plastik. Ein Pilz in Ecuadors Bäumen ernährt sich davon. Eine Chance?
KAURY KUCERA, YALE UNIVERSITY
VON PHILIPP BRANDSTÄDTER
Der Radiowecker. Die Toastbrotverpackung, die Butterdose. Die Zahnbürste, die Tuben und Fläschchen mit Kosmetikartikeln. Ein Becher Kaffee am Kiosk. Die Chipkarte für den Eintritt ins Labor. Seifenspender, Schutzbrillen, Petrischalen, noch bevor ihr Arbeitstag richtig begonnen hat, ist Kaury Kucera umgeben von Plastik. Und das bereitet der Biologin große Sorgen.
300 Millionen Tonnen produziert die Kunststoffindustrie weltweit pro Jahr, einhundert mal mehr als noch vor fünfzig Jahren. Viele dieser Kunststoffstrukturen werden erst in Jahrhunderten verrottet sein.
Die Folge: mehr und mehr Plastik. Auf den Straßen, dem Land, im Meer. Plastik in Fischen, die Kunststoffteile mit Plankton verwechseln, die abgefischt und uns zum Mittagessen serviert werden. Plastik in uns und um uns. Unser blauer Planet ist längst schon ein Plastikplanet geworden.
„Was die Menschen mit diesem Planeten anrichten, ist nicht länger tragbar“, sagt Kaury Kucera. Ebenso wenig wie unsere Abhängigkeit von Erdöl, dem Rohstoff aller Kunststoffe. Kucera will die Welt davor bewahren, im Plastikmüll zu versinken. Seit drei Jahren forscht sie darum an der Yale University im Bereich der Bioremediation, also der Entgiftung des Ökosystems durch organische Stoffe. Ihr Spezialgebiet: Pilze.
„Ich liebe Pilze.“ Kucera, 29 Jahre, kommt ein bisschen ins Schwärmen. „Sie existieren auf der ganzen Welt, entwickeln sich auch unter lebensfeindlichen Bedingungen, können fast alle Kohlenstoffverbindungen auflösen. Ihre Bioaktivität ist höchst effektiv und trotzdem keine große Gefahr für uns Menschen.“
In einem Chemielabor füttert die Biologin ihre gezüchteten Präparate. Die meisten mit einer Nährlösung aus Pflanzenstärke. Einige mit Bauschaum und Dämmmaterial. Dann macht sie sich Notizen dazu, welche der Organismen besonders hungrig gewesen sind. Seitdem die Fachpresse mit Spekulationen um das Institut für Biochemie rotiert, haben etliche Kunststoffproduzenten ihre Materialien zugeschickt. Als Futterspende, sozusagen.
Denn Kaury Kucera hat mit ihrer Seminargruppe eine einzigartige Entdeckung gemacht. Und zwar beim Pilzesammeln im Wald, im ecuadorianischen Amazonasgebiet, vier Flugstunden entfernt von der berühmten Universität in New Haven, Connecticut. Jedes Jahr reisen Studenten von dort in den Regenwald, um unerforschte Pflanzen zu untersuchen. Es wurden schon Organismen mit antibiotischer Wirkung gefunden, und andere, die Krebszellen oder den Malariaparasiten abtöten. Und Organismen, die als Biotreibstoff dienen könnten. Der jüngste Fund lässt sich allerdings auch sehen: Ein Pilz, der Plastik frisst. Magazine in den USA berichten von der Lösung des Müllproblems.
„Pestalotiopsis microspora“ wurde in einem Ureinwohnerdorf gefunden, im Stamm eines Guavenbaums. Der Dorfschamane benutzt die Früchte der Guave für gewöhnlich, um Durchfallerkrankungen zu behandeln. Für den weiß-gelben, feinfaserigen Schwamm mit den kleinen schwarzen Punkten in der Baumrinde, hatte er sich bis dato nicht interessiert. Die Yale-Biologen hingegen schon. Sie nahmen Proben des Pilzes und begannen, seinen Stoffwechsel zu analysieren. Erst nach einer Weile wird sich die Seminargruppe über die Bedeutung ihrer Entdeckung bewusst.
„Wir haben herausgefunden, dass der Pilz ein Enzym bilden kann, das den Kunststoff Polyurethan zersetzt“, erklärt Kaury Kucera. Polyurethan ist der Stoff in Putzschwämmen, Schuhsohlen und Fußbällen, in Lacken, Klebstoffen und latexfreien Kondomen.
Ein gefundenes Fressen für den Pilz. Wenn es ihm an Pflanzenstärke mangelt, von der er sich normalerweise ernährt, dann stellt er auf Kunststoffdiät um. Die Wissenschaftler nehmen an, dass sich der Pilz auf den Müllhalden der Welt einen neuen Lebensraum erschließen wird.
Wie genau Pestalotiopsis den Kunststoff auflöst, in welche Bestandteile und wie effektiv, erforscht Kaury Kucera zurzeit im Labor. „Sobald es uns gelingt, das Enzym zu isolieren, können wir versuchen, Plastikstrukturen auch ohne den Pilz zu zerlegen“, sagt sie. Vielleicht lassen sich die Strukturen sogar zurück in ihren wertvollen Ausgangsstoff zerlegen, das Erdöl. Und das vielleicht in einer Größenordnung, mit der sich das Müllproblem in Angriff nehmen ließe.
Doch auch, wenn es viele Wissenschaftsblogger gern verkünden würden: Der Pilz ist noch nicht die Erlösung vom Plastikzeitalter.
Zum einen ist das Plastikproblem nicht ausschließlich ein Müllproblem. Die Kunststoffindustrie belastet die Natur mit ihren stabilen, leichten und billigen Materialien auch damit, dass sie bei der Produktion Unmengen an Öl und Trinkwasser verbraucht.
Zum anderen zersetzt Pestalotiopsis eben leider nicht die stabileren Kunststoffe, die besonders schädlich für die Umwelt sind.
„Bei unseren zukünftigen Forschungen werden wir Pilze finden, die noch weitere Kunststoffe zersetzen können und uns in der Bioremediation weiter bringen“, sagt Kaury Kucera. Die Wissenschaftlerin hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, der Natur dabei zu helfen, sich schneller von der Verwüstung durch die Menschen zu kurieren als die Menschen die Natur verseuchen können. Einmal mehr ein Wettlauf mit der Zeit.