: Unkraut wuchert in diesem Leben
ZAUNGAST Nina Bußmann bringt einen Studienrat a. D. zum Blühen – „Große Ferien“
VON ULRICH RÜDENAUER
Diese Ferien verdienen das Adjektiv „groß“ wirklich. Für den Physik- und Erdkundelehrer Schramm werden sie niemals mehr aufhören. Er ist vom Dienst suspendiert worden, weil „etwas vorgefallen“ ist zwischen ihm und einem Schüler. Und obwohl ihm die Direktorin der Schule die Tür für eine Rückkehr ins Klassenzimmer offenhält, zieht er es vor, in Zukunft das Unkraut in seinem Garten zu jäten und den Beschädigungen in seinem Innern nachzuhorchen.
Mit beidem ist er gut beschäftigt. „Schramm scharrte“, heißt es über die Arbeit im Blumenbeet, aber man darf das auch wesenhaft verstehen. „Er hieb die Spitzhacke tief in die Ritzen, bis er die Stränge der Wurzeln zu fassen bekam, und lockerte sie in kleinen, wiederholten Bewegungen, einem Rucken und Hebeln.“ Nina Bußmanns pedantischer Lehrer, der an seiner Familiengeschichte knabbert wie die Schnecken am Salat im Garten, ist noch nicht einmal ansatzweise am Glück vorbeigeschrammt, hat weder Frau noch Freunde. Vater, Mutter und Bruder haben ihm so zugesetzt, dass er zu einem Frühverkorksten geworden ist.
In der Einsamkeit hat er sich eingerichtet. Einen einzigen Tag im Leben dieses Studienrats a. D. schildert Nina Bußmann, seinen Kampf gegen das Unkraut im Vorgarten des elterlichen Hauses, das in den Beeten und in ihm selber wuchert. Und dann ist Ruh: Er legt sich schließlich auf die umgepflügte Erde und überlässt sich, so dürfen wir das wohl verstehen, dem unvermeidlichen Tun der Natur.
Dieses Tun der Natur, das ist das Unvorsehbare, das Nichtverstehbare. Schramm hatte sich mehr schlecht als recht in seiner mausgrauen Existenz eingerichtet, bis er sich eben doch der Wunderlichkeit des Sozialen ausgesetzt sah, ein Näheerlebnis, das erschüttert und zugleich demaskiert. Der Schüler Waidschmidt kommt Schramm in die Quere, läuft mitten hinein in seine Überzeugungen und stülpt etwas in ihm um. Waidschmidt ist eine undurchsichtige, emphatische, dominante Gestalt, die den missmutigen Pädagogen provoziert, zu Unvorsichtigkeiten nötigt, vielleicht sogar sexuell betört und am Ende eben wohl auch bis zur Handgreiflichkeit ausrasten lässt. Waidschmidt ist der Katalysator für den antriebsschwachen Schramm: Durch ihn wird er überhaupt erst in Bezug gesetzt zu seiner Umgebung, in einen Grübelzustand geworfen, durch ihn muss er sich stellen und exponieren und dann doch ganz zurückziehen in sein Schneckenhaus. All das ist fatal für einen, der nie gelernt hat, berührt zu werden. Der sich vom Rockzipfel der Mutter nie recht lösen konnte und noch nicht einmal Zaungast eines selbstbestimmten Lebens gewesen ist.
Es ist eine streng komponierte, zugleich aber gewundene Sprache, in der die 1980 geborene Nina Bußmann uns mit Schramm bekannt macht – eine autoaggressive Bernhard-Suada. An ihr schon lassen sich die Ausweichmanöver dieses Charakters ablesen, seine Vorbehalte und Verdrehtheiten, seine Verdrängungsbemühungen und Ordnungsfantasien. Dabei erfahren wir Schramm als ein etwas armseliges Pflänzchen, das nach und nach aus dem Erdboden herauslugt und sogar in seiner Verschrobenheit ein bisschen zu blühen beginnt, zumindest sichtbar wird.
Bußmann aber folgt mehr den unterirdischen Verästelungen, reißt und zupft an den prägenden, im Unterbewusstsein eingelagerten Ereignissen im Leben von Schramm. Sie erzählt vom gestrengen, unbeherrschten Vater, der einst zur Pein seiner Söhne von einer Sängerkarriere geträumt hat und kurz vor seinem Tod auf eigene Kosten eine sentimentalische Schallplatte mit Kunstliedern aufnimmt. Vom Bruder Viktor, der die Familienhölle schnellstmöglich flieht, Arzt wird, Jahrzehnte in Mittelamerika arbeitet, Frau um Frau verschleißt und schließlich für Schramm die einzige Verbindung zur Außenwelt und zur Vergangenheit darstellt. Auf ihn wartet Schramm an diesem Tag, und während die Ankunft sich verzögert, wird das, was zwischen den beiden besprochen werden könnte, im Kopf immer mehr in Nebensätzen aufgelöst.
Schramm bleibt in alldem unfassbar, weil er sich zu verstecken sucht und weil Nina Bußmann bis auf wenige Ausnahmen konsequent die Perspektive ihres verlorenen Helden wahrt. Die Selbstqual überträgt sich förmlich. Nichts ist am Ende verarbeitet, keine Frage geklärt, und doch ist das Lernziel erreicht: zu beobachten, wie weniger ein Pädagoge an seinen Ansprüchen als vielmehr ein Mensch an seinem Dasein zugrunde geht. Einige Bücher lassen sich didaktisch aufbereitet in den Lehrplan einfügen, weil sie eine abprüfbare Botschaft haben. „Große Ferien“ gehört zum Glück nicht dazu. Es handelt wortreich von der Leere, die sich im Moment des Scheiterns auftut.
■ Nina Bußmann: „Große Ferien“. Suhrkamp, Berlin 2012, 200 Seiten. 17,95 Euro