Sieben Stunden Stakkato

Ohne Elendsfolklore, ohne platten Realismus und gerade deswegen überzeugend: Ariane Mnouchkine und ihr Théâtre du Soleil gastierten mit „Le Dernier Caravansérail (Odyssées)“ in Berlin

VON CHRISTIANE WAHL

In Melbourne wird routinemäßig ein Asylantrag abgelehnt. „Eine afghanische Liebe“ endet in brutalem Terror. An der kirgisisch-kasachischen Grenze liefern sich Flüchtlinge selbstmörderisch einem tosenden Fluss aus: Sieben Stunden lang wirft Ariane Mnouchkines multinationales Théâtre du Soleil bei seinem Gastspiel „Le Dernier Caravansérail (Odyssées)“ in der Berliner Arena Schlaglichter auf Flüchtlingsschicksale. Sieben Stunden lang vergegenwärtigt es Auffanglager, Kriegs- und Krisenregionen, springt es von Russland über den Iran nach Afghanistan, von Tschetschenien über Serbien nach Frankreich. Sieben Stunden lang zeigt es Menschen in abgerissenen Behausungen, abgerissenen Klamotten und manchmal auch mit abgerissenen Gliedmaßen. Solche Szenarien stürzen einen natürlich umgehend in Reflexionen über Grundsätzliches: Wie weit ist soziales Elend auf dem Theater überhaupt verhandelbar, ohne in gut gemeinte Folklore abzudriften? Die strukturelle Diskrepanz zwischen Bühnengeschehen und Zuschauerraum liegt ja auf der Hand: Während Mnouchkines Figuren daran scheitern, den letzten Hundertdollarschein für den Schlepper aufzutreiben, bezahlen ihre Zuschauer siebzig Euro für die Theaterkarte und bilden in der Pause Schlangen vor Couscous mit Gemüse für neun oder Couscous mit Huhn für elf Euro.

Wie also steht es um den politischen Nerv des „Sonnentheaters“, das vor 35 Jahren mit „1789“ seinen internationalen Durchbruch erlebte und seither immer wieder Maßstäbe setzte? Wie man in Josette Férals aufschlussreichem Buch „Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil“, erschienen im Alexander Verlag, nachlesen kann, bekennt dessen Chefin unmissverständlich, es sei ihr „ein Bedürfnis, die Welt zu verändern“. In der heimischen Cartoucherie in Vincennes wird an der Utopie vom Theater als Familie gearbeitet; bei den Aufführungen werden die Gäste bekocht, und die Prinzipalin steht höchstpersönlich am Einlass, um beim Kartenabreißen das Publikum zu begrüßen.

Für diesen Job ließ Mnouchkine sich in Berlin auf jeden Fall schon mal vertreten. Wie eh und je aber konnte man dafür den Schauspielern beim Schminken zusehen: Die Akteure des Théâtre du Soleil bereiten sich nicht in abgeschotteten Garderoben, sondern für alle sichtbar in Bühnennähe auf ihren Auftritt vor. Dass solche Rituale jetzt in der Arena rührend altmodisch, ja fast pittoresk anmuteten, liegt sicherlich nicht nur daran, dass Atmosphäre nur begrenzt transportierbar ist. Das Théâtre du Soleil ist stolze 41 Jahre alt. Die Grenzaufweichung zwischen Akteuren und Publikum, das Spiel mit dem Verhältnis zwischen Kunst und Realität, gehört mittlerweile nicht nur zum dramatischen Mainstream, sondern wird andernorts auch in komplexeren Dimensionen verhandelt.

Aber dann: Die Aufführung! Nachdem man „Le Dernier Caravansérail“ gesehen hat, kann man doch nur vor Ariane Mnouchkine auf die Knie gehen. Denn im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen erweist sie sich über Sozialkitsch und Elendsfolklore tatsächlich absolut erhaben. Dass es in den sieben Stunden ein paar allzu melodramatische Minuten mit wallenden Tüchern, pathosverdächtiger Musik und Lyrik gibt: geschenkt! Dass man den einen oder anderen Ermüdungsanflug zu überwinden hat: vergessen! Wo man in anderen theatralen Bemühungen mit Sozialanspruch oft das Gefühl hat, der Bebilderung mittelmäßiger Zeitungsartikel beizuwohnen, besticht das Théâtre du Soleil durch Genauigkeit und Klischeefreiheit. Die anspruchsvolle Recherchearbeit – Mnouchkine hat mit ihrer Dramaturgin Hélène Cixous seit 2001 über 400 Gespräche in Flüchtlingslagern geführt – merkt man der Produktion deutlich an. Dass sie gleichermaßen ästhetisch überzeugt, verdankt sich der Tatsache, dass das Theater – Brecht lässt grüßen – hier gar nicht erst so tut, als wolle es etwas anderes als Theater sein. Dabei ist das Mittel zur Vermeidung platten Realismus ebenso schlicht wie wirkungsvoll. Mnouchkines Ausstattung besteht aus lauter rollenden Kleinbühnen: Von der Bretterhütte bis zum Kunstbaum ist hier jede Kulisse und jedes Requisit auf einem fahrbaren Untersatz verankert; und auch die Schauspieler werden ans jeweilige Szenario heran- beziehungsweise von ihm weggerollt. Über den Vorführcharakter hinaus ermöglicht dieses System auch die ständigen Ortswechsel, die szenischen Sprünge, die der Inszenierung ihren grandiosen stakkatohaften Rhythmus verleihen: dieses Gehetzte, Rastlose.

So gesehen darf man dem Kniefall vor Mnouchkine auch gleich noch einen vorm Arena-Chef Falk Walter folgen lassen. Der hat das teure dreitägige Gastspiel nämlich zur Feier des zehnten Geburtstages seiner Spielstätte nach Berlin geholt – trotz der immens hohen Kartenpreise für die Arena ein finanzielles Verlustgeschäft. Was das Renommee des spartenübergreifenden Veranstaltungsortes betrifft, der die Theaterschiene eher mit leichteren Stoffen wie „Caveman“ beschickt, ist Mnouchkine natürlich in jedem Falle ein Gewinn: Klar, dass sich mit dem Aushängeschild auch die Werbetrommel für die übrigen Geburtstagsfeierlichkeiten und künftige Projekte leichter rühren lässt. Und nachgerade begrüßenswert ist das, wenn für die Zuschauer dabei so ein Ereignis herausspringt wie „Le Dernier Caravansérail“.