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Verbotene Pille

Vor über 60 Jahren entwickelte ein deutscher Pharmakonzern das Aufputschmittel Captagon als Medikament gegen Narkolepsie. Heute überschwemmt die Droge weite Teile des Nahen Ostens, von Irak über den Golf bis nach Marokko. Produziert wird vor allem in Syrien – ein Milliarden­geschäft für das Regime von Baschar al-Assad.

von Clément Gibon

Die Pillen sind versteckt in Obstkisten, in Töpferwaren, in Hummusdosen, in Pralinen- oder Lokumschachteln, manchmal sogar in den Därmen lebender Schafe. Jedes Jahr werden an Grenzübergängen im Nahen Osten mehrere tausend Kilogramm der Droge Captagon, ein synthetisches Psychopharmakon, beschlagnahmt. Mindestens 3 Millionen Pillen, verborgen in Apfelkisten, hatten die irakischen Behörden allein im März am Übergang zwischen der syrischen Provinz Deir Ezzor und der Wüstenregion Anbar im Westirak sichergestellt.

Einige Wochen später verkündete Saudi-Arabien, man habe 8 Millionen Pillen beschlagnahmt, dazu gab es ein Foto von den verhafteten Schmugglern in Handschellen vor einem Berg Ta­blet­ten.[1]Im Jahr 2020, schätzt die Washingtoner Denkfabrik New Lines Institute for Strategy and Policy, wurden im illegalen Captagon-Handel 3,5 Milliarden US-Dollar erzielt. 2021 soll der Umsatz bereits auf 5,7 Milliarden gestiegen sein.[2]

Der Großteil des Handels konzen­triert sich auf die Länder des Nahen Ostens und die Golfmonarchien. Auch im Maghreb wird gelegentlich Captagon beschlagnahmt. Im November 2022 meldete die marokkanische Polizei die Beschlagnahmung von 2 Millionen Pillen aus dem Libanon. Ein Teil davon sollte in westafrikanische Länder weitergeleitet werden.

Der Captagon-Handel ist auch deswegen so attraktiv, weil die Droge mit wenigen Mitteln billig synthetisiert werden kann. Entsprechend hoch sind die Gewinnmargen: Eine einzige Ta­blet­te, die in der Herstellung nur wenige Dollarcent kostet, wird in Saudi-Arabien oder in den Emiraten für 20 US-Dollar verkauft. Die Wirkung einer Dosis kann bis zu vier Tage anhalten.

Die Droge ist zwar verboten, aber weniger tabuisiert als andere Rauschmittel. Viele Konsumenten ordnen sie nicht in dieselbe Kategorie ein wie den im Islam geächteten Alkohol oder Cannabis, Kokain und Heroin. Captagon sei in den Golfmonarchien sehr beliebt, erklärt Caroline Rose, die beim New Lines Institute das Projekt zum Captagon-Handel leitet: „Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass die Droge die Leistungsfähigkeit steigern kann, etwa bei der Vorbereitung auf Prüfungen.“

Captagon wurde ab 1961 von dem deutschen Pharmaunternehmen Degussa als Medikament gegen Narkolepsie und das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS vermarktet. Hinter dem Handelsnamen verbirgt sich der synthetische Wirkstoff Fenetyllin aus der Familie der sogenannten ­Weckamine. Schon bald wurde die Pille jenseits der Medizin als Aufputschmittel und Partydroge konsumiert. 1986 listete das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) Fenetyllin erstmals als gefährliche Substanz mit hohem Suchtrisiko.

Weniger tabuisiert als Alkohol

In den darauffolgenden Jahren wurden die meisten Captagon-Bestände in Westeuropa vernichtet, und der illegale Handel verlagerte sich nach Südosteuropa, vor allem nach Bulgarien und in die Türkei, wo nun auch produziert wurde. Anfangs hätten die Drogenhändler noch auf die vorhandenen Bestände zurückgegriffen, berichtet Laurent Laniel von der Euro­päi­schen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA). Doch als die aufgebraucht waren, habe man das Fenetyllin durch Amphetaminsulfat ersetzt. „Captagon hat also seinen Namen behalten, aber seine chemische Formel wurde völlig verändert“, erklärt der Wissenschaftler.

Ende der 1990er Jahre wurden Bulgarien und die Türkei offiziell EU-Beitrittskandidaten, und es wurde enger für die Drogenhändler in Südosteuropa. Nach und nach verlagerte sich die illegale Captagon-Produktion in den Nahen Osten. Heute wird die Droge hauptsächlich im Libanon und in Syrien hergestellt.

Im Libanon wurden bereits Anfang der 2000er Jahre Captagon-Labore entdeckt. In der Bekaa-Ebene entlang der durchlässigen Grenze zu Syrien soll es besonders viele kleine, mobile Labore geben. Nach jeder Razzia verlagert sich die Produktion kurzfristig nach Syrien, berichtet Rose. Doch wenn der Druck nachlässt, kämen die Hersteller wieder zurück. Immer wieder kommt es zu Zusammenstößen zwischen der libanesischen Armee und der Captagon-Mafia, die vor dem Gebrauch von Schusswaffen nicht zurückschreckt. Im Februar kamen drei Soldaten bei einer Razzia im Dorf Haour Talaa ums Leben.[3]

Der Drogenhandel führt zu diplomatischen Spannungen zwischen Beirut und den Golfmonarchien. Nachdem Saudi-Arabien im Juni 2021 die Einfuhr von Obst und Gemüse aus dem Libanon verboten hatte, wichen die Schmuggler auf andere Routen und Verstecke aus. Im April fanden die libanesischen Sicherheitskräfte rund 10 Millionen Pillen im Hafen von Tripoli – versteckt in einer Gummilieferung, die für den Senegal und Saudi-Arabien bestimmt war.

Der Großteil der Captagon-Produktion liegt laut Rose allerdings nicht im Libanon, sondern in Syrien, wo die Labore regelrechte „Fabriken“ seien. Die Herstellung „im industriellen Maßstab“ findet an mindestens 15 Standorten statt. Die meisten davon befinden sich an der syrischen Küste, die vom Assad-Regime kontrolliert wird. Aber auch in den Provinzen Damaskus, Aleppo und Homs gibt es Captagon-Labore. Und natürlich in den Grenzgebieten zum Libanon, zu Jordanien und zum Irak, von wo die Droge auf dem Landweg exportiert wird.

Das Assad-Regime regiert mit eiserner Hand in den von ihm kontrollierten Regionen. Folglich ist die Captagon-Produktion nur möglich, weil sie von oberster Stelle toleriert wird. Der syrische Diktator ist immer noch weitgehend diplomatisch isoliert. Sy­rien wird vom Westen sanktioniert und bis vor kurzem waren die Beziehungen zur Türkei und zum Irak äußerst angespannt. Mittlerweile wird Assad vorgeworfen, sein Land zum Narcostaat entwickelt zu haben.

Es gibt Hinweise, dass Maher al-Assad, der Bruder des Präsidenten und De-facto-Chef einer Eliteeinheit, der 4. Division, eine zentrale Rolle im Captagon-Handel spielt. „Die 4. Division beaufsichtigt eine Reihe von Industrieanlagen zur Herstellung von Captagon, die hauptsächlich in den vom Regime kontrollierten Gebieten liegen“, berichtet Rose. Zudem habe die Einheit ihre Präsenz entlang der südlichen Grenze zu Jordanien und zum Libanon verstärkt.

Narcostaat Syrien?

Thomas Pietschmann, Forscher im ­UNODC, rät zur Zurückhaltung, wenn es darum geht Schuldige zu benennen: „Es ist ein blame game, das alle Akteure im Hinblick auf ihre politische Agenda betreiben. Manche behaupten, dass das syrische Regime das Captagon produziert, andere beschuldigen Rebellengruppen oder Dschihadisten.“ Unbestreitbar ist jedoch, dass die Droge im Libanon und in Syrien genauso konsumiert wird wie in den Nachbarländern.

Im Dezember 2022 verabschiedeten die USA ein Gesetz, das den Captagon-Handel als „transnationale Bedrohung für die Sicherheit“ der USA bezeichnet. Laut James French Hill, einem repu­bli­ka­nischen Kongressabgeordneten, der den Entwurf im Dezember 2021 einbrachte, soll der „Captagon Act“ vor allem dazu dienen, die Netzwerke der Drogenproduzenten, die mit dem syrischen Regime in Verbindung stehen, zu stören und zu zerschlagen.

„Wir haben zusammen mit unseren Verbündeten und Partnern eine Strategie entwickelt. Und wir denken, dass sie die öffentliche Gesundheit in der Region verbessern, die illegale Finanzierung des Assad-Regimes erschweren und die Stabilität in der Region stärken wird“, meint Hill. Am 28. März verkündeten die USA und Großbritannien Sanktionen gegen Personen, die am Captagon-Handel beteiligt sind.

Die britische Regierung veröffentlichte Zahlen, die von einem Volumen von bis zu 57 Milliarden US-Dollar ausgehen[4]– was dem Zehnfachen der ­üblichen Schätzungen für den Captagon-Markt im Nahen Osten entsprechen würde. Experten halten diese Summe allerdings für absurd und unterstellen, dass der Regierung in London ein Komma­fehler unterlaufen sein ­könnte.[5]

Auf der Sanktionsliste stehen hochrangige Beamte des syrischen Regimes, mächtige Geschäftsleute, Milizenführer, enge Vertraute von Baschar al-Assad sowie Mitglieder der libanesischen Hisbollah. Letzterer wird vorgeworfen, sie stelle ihre militärischen und logistischen Kapazitäten für den Schutz von Produktionsstätten und den Transport der Ware zur Verfügung.

Der Experte Laniel geht davon aus, dass das Captagon-Netzwerk weit über den syrischen Staat hinausgeht: „Es fällt mir schwer zu glauben, dass der syrische Staat allein, ohne die Hilfe Dritter, tonnenweise Captagon herstellen und ausliefern kann. Die Risiken für die Schmuggler sind beträchtlich, in Saudi-Arabien etwa droht ihnen die Todesstrafe. Betrachtet man das Ausmaß des Captagon-Handels, gibt es mit Sicherheit ein etabliertes Netz in den Golfstaaten, mit lokalen Akteuren, die die Ware übernehmen.“

Offenbar sind die Golfstaaten fest entschlossen, zu verhindern, dass sich Captagon endgültig als Alltagsdroge etabliert – wie etwa das Rauschmittel Kat im Jemen. Laut einem unveröffentlichten UNODC-Dokument stieg die Anzahl der Razzien, bei denen in der Golfregion Captagon beschlagnahmt wurde, zwischen 2020 und 2022 von 80 auf 513.

Die Frage ist auch, ob sich die Normalisierung der Beziehungen zwischen Syrien und den übrigen Mitgliedern der Arabischen Liga auf den Captagon-Handel auswirken wird. Assad könnte sich gezwungen sehen, den Handel zu bremsen, um seine Nachbarn zufriedenzustellen.

Auf dem Gipfeltreffen vom 19. Mai im saudischen Dschidda ist Syrien nach zwölf Jahren offiziell in die Arabische Liga zurückgekehrt. Zugleich intensivierten sich die diplomatischen Kontakte zwischen dem Assad-Regime und den Golfmonarchien, mit Ausnahme von Katar. Die Captagon-Frage war bereits Thema zwischen Riad und Damaskus, nachdem Maher al-Assad im März in Saudi-Arabien gewesen war. Saudische Diplomaten bestätigten, dass auch auf dem Gipfel der Arabischen Liga über den Captagon-Handel gesprochen ­wurde.

Riad dementierte allerdings die von Presseagenturen verbreitete Meldung, Saudi-Arabien habe Damaskus 4 Milliarden US-Dollar angeboten, um die Produktion der Droge vollständig zu stoppen oder zumindest die Lieferungen auf die Arabische Halbinsel zu unterbinden.[6]Die kommenden Monate dürften einen Hinweis darauf liefern, ob und wie die Rückkehr des Assad-­Regimes auf die regionale politische Bühne den Captagon-Handel beeinflussen wird.

Weil die Golfstaaten Warenimporte aus dem Libanon oder Syrien immer schärfer kontrollieren, wird Captagon mittlerweile schon über asiatische, afrikanische oder europäische Transitländer transportiert. Mehrere Frachten wurden in Griechenland und auch in Italien beschlagnahmt. Immer mehr Captagon-Pillen werden offenbar auch über die Nachbarländer Sy­riens und Libanons exportiert. Auch dort – vor allem in Jordanien – steigt der Konsum.

1 Adam Lucente, „Saudi Arabia seizes 8 million Captagon pills as it courts Syria’s Assad to clamp down“, Al-Monitor, 10. Mai 2023.

2 Caroline Rose und Alexander Söderholm, „The Captagon threat: a profile of illicit trade, consumption, and regional realities“, New Lines Institute for strategy and policy, Washington, D. C., 5. April 2022.

3 Layal Dagher, „Three soldiers killed in Bekaa during raid on drug traffickers“,L’Orient Today,16. Februar 2023.

4„Tackling the illicit drug trade fuelling Assad’s war machine“, Pressemitteilung des Foreign, Commonwealth and Development Office, London, 28. März 2023.

5 Siehe Mustafa Abu Sneineh, „Why does the UK think Syria has a $57bn captagon industry?“, Middle East Eye (MEE), 31. März 2023.

6 Maya Gebeily, „Arabs bring Syria’s Assad back into fold but want action on drugs trade“, Reuters, 10. Mai 2023.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Clément Gibon ist Journalist.

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