Dieter Bohlen und der Vorschein göttlicher Gnade : Sie entscheiden!
MICHA BRUMLIK
Der junge, genialische Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher hielt 1799 eine viel beachtete Rede über die Religion an die „Gebildeten unter ihren Verächtern“: Sie sei „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Jahre später, Schleiermacher mühte sich mit Dogmatikvorlesungen für künftige Pfarrer ab, zog er eine psychologisierende Deutung vor. 1811 erscheint ihm Religion als das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“. Dem hielt zwei Jahrhunderte später der reformierte Theologe Karl Barth entgegen: „Religion ist Unglaube“. Weil Religion nämlich etwas zutiefst Menschliches und eben nicht Gottes geoffenbartes Wort sei.
Wer vor Monaten, am Abend des 9. Mai, RTL einschaltete, konnte dafür einen verblüffenden Beweis finden. An diesem Abend wurde das Finale von DSDS (Deutschland sucht den Superstar) ausgestrahlt – Millionen Zuschauer gaben telefonisch ihre Stimme für einen der beiden Finalisten Sarah Kreuz oder Daniel Schuhmacher ab.
Es war ein bewegendes Spektakel, das sich in der einer US-Megachurch zum Verwechseln gleichenden Kulisse abspielte. So ging es bei perfekt gesungenen Schnulzen und ergreifendem Jurorentalk um nicht weniger als darum, wer die geliebteste Person dieser Fernsehgemeinde sein sollte. Stundenlang wurde mit Beleuchtung, Großaufnahmen und erbaulichen Kommentaren Ergriffenheit zelebriert und Gemeinschaft gestiftet. Auch Schleiermachers zweite Bestimmung wurde beschworen: „Sie“, so der Moderator an die Zuschauer, „sind es, die entscheiden!“ Wohl und Wehe von Sarah Kreuz und Daniel Schuhmacher hingen also schlechthin von den Zuschauern ab, die Finalisten wussten es und bestätigten es mit Tränen, tiefen Blicken und Umarmungen.
Am Ende, vor der Verkündigung des telefonisch ermittelten Ergebnisses, das abschließende, das ganze Leben der Protagonisten wägende Urteil, von dräuender Musik bei atemloser Stille verlesen, eine biblische, ja christologische Würdigung: Von Sarah Kreuz (nomen est omen) wurde berichtet, dass sie ohne Ausbildung und Beruf, ohne jede Chance im Leben diese eine Chance ergriffen und sich dafür sogar gegen ihren Verlobten entschieden habe, von Daniel Schuhmacher aber, dass er ein Verachteter und Verspotteter, einer, der seiner Stimme wegen von den Klassenkameraden gemobbt worden sei. Beide kamen aus dem Nichts und ergriffen ihre Chance: „The later now“ – heißt es bei Bob Dylan unter Bezug auf die Bibel – „will be later the first“.
Und dennoch: Unglaube! „Viele sind berufen, nur wenige sind auserwählt!“ Aus dem Munde des Moderators und des in einen weißen, priesterlichen Anzug, wie ihn der Papst nicht besser tragen könnte, gekleideten Dieter Bohlen erfuhr das Publikum, dass diese beiden von dreißigtausend (30.000!) gecasteten Personen übrig geblieben waren und dieses Ende allein ihrer Zähigkeit und ihres Fleißes wegen das Finale erreicht hätten. Eine schlagende Bestätigung für den Soziologen Max Weber, für seine These vom Zusammenhang des Geist des Kapitalismus mit dem Glauben daran, dass belohnte Leistung ein Vorschein göttlicher Gnade sei. In dieser Perspektive schießen Gott und die anonyme Menge der Marktteilnehmer ununterscheidbar ebenso zusammen wie die nach Millionen zählenden Anrufer und das Gesicht Dieter Bohlens in der RTL-Arena; Konsumenten werden zu Richtern und berufliche Leistung zum einzigen Maßstab eines Lebens. Gleichwohl: Wie jede Religion trägt auch die Religion von DSDS ein ambivalentes Antlitz: Das Maß an Solidarität und Zuneigung, ja schüchterner Liebe zueinander, das die beiden Finalisten und ihre Familien öffentlich an den Tag legten, war keineswegs gespielt.
Auf jeden Fall bewegte der von den Kirchen grandios verlorene Berliner Streit um „Pro Reli“ weitaus weniger Menschen als DSDS, und auch der Streit zwischen dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken und seinen Bischöfen dürfte kaum so viele Menschen ergreifen. Am Ende frage ich mich freilich, ob nicht zumal lutherische Geistliche, die der DSDS-Religion ob ihrer Apotheose der Werkgerechtigkeit wegen besonders kritisch gegenüberstehen müssten, unseren Politikern nicht ein für alle Mal erklären sollten, dass die Rede von der „Lebensleistung“, deretwegen man Respekt verdiene, ein Fall von krassestem Unglauben ist.
■ Micha Brumlik ist Publizist und Professor an der Uni Frankfurt/M.