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Archiv-Artikel

Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit

Bilder von Massengräbern und Hinrichtungen schockieren derzeit die Menschen in Serbien. Doch viele, vor allem Politiker, wollen die Leichen lieber im Keller ruhen lassen. Menschenrechtlerin spricht von „politischer Blindheit“

BELGRAD taz ■ Dieser Tage sollten Serben mit schwachem Magen ihre Fernseher lieber gar nicht erst einschalten. Noch hatte sich die Aufregung nach den Videoaufnahmen über die kaltblütige Hinrichtung von sechs muslimischen Zivilisten und Minderjährigen vor zehn Jahren bei Srebrenica nicht gelegt, und schon zeigte der Belgrader TV-Sender B 92 am Wochenende noch entsetzlichere Bilder: In dem unlängst entdeckten Massengrab Suha bei Bratunac in Bosnien lagen 38 Leichen von alten Männern, Frauen und neun Kindern im Alter von neun Monaten bis zu fünf Jahren. Mütter hielten ihre Kinder in den Händen, einige Kinder lagen, sich umarmend, in dem Grab. Ein Pathologe zeigte einen Fötus im 9. Schwangerschaftsmonat.

Die Charakteristik dieses Massengrabes sei, dass in ihm so viele Kinder und Babys begraben wurden, sagte der Pathologe Zdenko Cirhlaz. Spezifisch sei auch, dass die Leichen und das gesamte Beweismaterial dreizehn Jahre nach dem „monströsen“ Verbrechen außergewöhnlich gut erhalten seien, weil sie im Lehm lagen. Alle Opfer wurden mit Militärwaffen erschossen. Man könne davon ausgehen, dass die Frauen und Kinder aus ihren Häusern gezerrt und hingerichtet wurden. Die Staatsanwaltschaft in Tuzla sprach von einem „schweren Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung“, wollte sich jedoch vorerst zur Identität der Opfer und Täter nicht äußern.

Um ein „Gleichgewicht des Schreckens“ herzustellen, zeigten einige serbische Medien Bilder, wie muslimische Mudschaheddin während des Bosnienkrieges einem Serben vor laufenden Kameras den Kopf abschlagen. Die weit verbreitete Meinung in Serbien ist, dass das UNO-Tribunal für im ehemaligen Jugoslawien begangene Kriegsverbrechen „tendenziös“ Beweismaterial über an Serben begangene Verbrechen zurückhält. Warum immer nur auf serbischen Verbrechen herumreiten, die anderen hätten ebenfalls schreckliche Untaten begangen, sagen viele Serben. Sie haben genug von „all den Leichen im Keller“ und wollen nichts von den serbischen Verbrechen wissen. Man solle sich der gemeinsamen europäischen Zukunft zuwenden und die Vergangenheit hinter sich lassen, pflegen regierende serbische Politiker zu sagen.

Diese Einstellung, die „Relativierung“ eigener Verbrechen, kritisiert die Leiterin des „Zentrums für das humanitäre Recht“ in Belgrad, Nataša Kandić. Dies zeuge von „politischer Blindheit“ und „Unverantwortlichkeit“ gegenüber zukünftigen Generationen in Serbien. Kandić hatte das schockierende, ein Jahrzehnt lang im Ausland versteckte Video, das zeigt, wie Mitglieder der serbischen Sondereinheit „Skorpione“ gefesselte muslimische Zivilisten hinrichten, gefunden und dem UNO-Tribunal übergeben.

Darauf folgten „bombastische“ Erklärungen „völlig überraschter“ serbischer Politiker, die dieses Verbrechen unisono verurteilten, sagt Kandić. Die auf dem Video identifizierten Henker wurden verhaftet. Doch man versuchte, sie als „pathologische Mörder“ und „kranke Einzeltäter“ darzustellen. Immer noch zeigten sich serbische Behörden nicht bereit, die Verantwortung für die im Namen des serbischen Volkes begangenen Kriegsverbrechen zu übernehmen. Die serbische Staatsanwaltschaft beschäftige sich eventuell mit den Vollstreckern, höhere Offiziere kämen jedoch in der Regel ungeschoren davon.

Die „Skorpione“ hätte aber der serbische Geheimdienst von Slobodan Milošević gegründet, ausgebildet, bewaffnet und finanziert, sagt Kandić. Die wenigen ehemaligen Skorpione, die reden wollten, sagten, dass sie sich selbst stets als eine Belgrad untergeordnete Einheit des serbischen Geheimdienstes betrachtet hätten. Die Skorpione hätten mehrere Kriegsverbrechen in Bosnien und später im Kosovo begangen. Kandić zweifelt daran, dass sie Zivilisten auf eigene Faust hingerichtet hätten.

Im Juli 1995 richteten bosnisch-serbische Streitkräfte in Srebrenica über 8.000 Muslime hin. Die Resolution, die das serbischen Parlament diesbezüglich verabschieden will, sei schamlos, sagt Kandić. Anstatt sich unmissverständlich mit dem Massaker zu konfrontieren und den Prozess der Vergangenheitsbewältigung zu beginnen, werde man eine „nichts sagende“ Resolution verabschieden, die allgemein „alle“ Verbrechen während des Krieges im früheren Jugoslawien verurteilt. ANDREJ IVANJI