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Noch ein allerletztes Mal

Unser langjähriger Kollege Martin Reichert ist tot. Diesen Text schrieb er im August 2018 zum Abschied von seiner Kolumne. Nun müssen wir, viel zu früh, von ihm Abschied nehmen

Von Martin Reichert

Zum letzten Mal draußen im Garten sitzen, schon mit einer Decke auf dem Schoß, und Kaffee trinken und Kuchen mit Streuseln essen, während oben im kühl-stahlblauen Himmel die Kraniche singen, Nachzügler schon auf dem Weg in den Süden.

Noch ein letztes Bier bestellen, wenn alle schon lange gegangen sind, und draußen vor dem großen Fenster wird es morgengrau in der großen Stadt und Menschen mit ebensolchen Gesichtern hetzen zur Bahn. Und dann noch ein letztes Lied, „Sometimes it snows in April“.

Noch ein letztes Mal durch die alte Wohnung gehen, bevor der Schlüssel an den Vermieter zurückgeht. Noch ein letztes Mal auf dem alten Küchenstuhl mit der abgeblätterten grünen Farbe sitzen, der morgen früh auf der Straße verregnen wird. Den weißen Fleck auf der Wand im Schafzimmer betrachten, den eben noch das Foto zweier Liebender von einst bedeckte.

Noch einmal im Kreis fahren mit dem „Polyp“-Karussell auf der Kirmes in der alten Heimat, „letzte Fahrt für heute“, ruft jemand aufgekratzt und zugleich ermüdet durch die Lautsprecherboxen, dann brandet „Rhythm is a Dancer“ auf und alles dreht sich, dreht sich, dreht sich. Die Krakenarme drehen sich, die Gondeln drehen sich, alles dreht sich auf einer Scheibe im Kreis. Und alles wird ganz leicht, als wäre gar nichts passiert.

Noch einmal gemeinsam mit den Eltern den steilen Weg gehen durch die mit Schieferbruch bedeckten Weinberge im goldenen Oktoberlicht. Die Knie. Die Hüften. Das Herz. Der schöne Blick auf das Moseltal und dort hinten, die alte Burg.

Noch einmal zusammen auf den Wochenmarkt gehen mit der so vertrauten Freundin, die in der nächsten Woche nach Südwestdeutschland umziehen wird, um zu heiraten und Kinder zu bekommen und um zu versuchen, ihr Glück zu finden. Woanders. Noch einmal zusammen Blumen kaufen und mit Kräutern eingelegte Oliven und zu dem Stand gehen mit dem frisch gepressten, süßsauren Orangensaft, „ich lade dich ein“. Und: „Lass uns in Verbindung bleiben, ja?“

Foto: JBM/VISUM

Noch einmal die Tür hinter sich zuziehen im bis eben noch gemeinsamen Haus und gleichzeitig wissen, dass man nie wiederkommen wird. Erst Jahre später werden die Gefühle so unauffindbar sein wie die Bücher, die man hat liegen lassen, irgendwo im zweiten Stock.

Noch einmal baden gehen im abgekühlten Wasser des Golfes von Triest, bevor es nach Hause geht, zurück nach Deutschland. Noch einmal zwischen den Felsen balancieren, noch einmal Meerwasser schlucken und zuhören, wie die Wellen an den Strand schlagen und die Steine zu Murmeln werden lassen, die sich nass aneinander reiben, ein Kieselklang. Noch einmal aus dem Wasser steigen und sich in ein Handtuch wickeln und hinausschauen auf die Bucht, wo die Frachter auf Reede liegen.

Und einmal noch Kolumne schreiben auf der Seite vierzehn der taz. Zum letzten Mal.

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