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Archiv-Artikel

Gehen wir zum Body Shop

KAPITALISMUS Die slowenische Philosophin Renata Salecl sprach am Dienstag im ICI Berlin über soziale Ungleichheit und die Ideologie der freien Wahl

Protest und Markenidentifikation gehen mitunter Hand in Hand

In Japan haben immer mehr Menschen Schwierigkeiten, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Bei einer Frau soll es gar so weit gekommen sein, dass sie jeden Spiegel, der in ihrem Gesichtsfeld auftauchte, zerstören musste. Der Grund für solche Pathologien könnte das ständige Bombardement der Japaner mit idealen Körperbildern in der Werbung sein, so die slowenische Philosophin Renata Salecl am Dienstag im Berliner ICI. Mit Beispielen wie diesem illustrierte sie ihre These, dass die „Ideologie der freien Wahl“ klassenübergreifend zu neuen Formen der Identifikation führt, die oft von Gewalt begleitet sind.

Ideologische Veränderungen wirken sich laut Salecl in einer Gesellschaft auch auf die dort vorherrschenden Leidensarten und Symptome aus – eine Einschätzung, die unter anderem die Arbeiten des französischen Soziologen Alain Ehrenberg über Individualität und Psychopathologie bestätigen. Gegenwärtig vorherrschend sei eine neoliberale Ideologie der freien Wahl, die den Individuen die Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen und damit auch für Erfolg oder Misserfolg im eigenen Leben aufbürdet.

Figur des Offensichtlichen

Der Glaube an diese Wahlmöglichkeit manifestiert sich nicht nur in bestimmten Figuren des Offensichtlichen – die bis zur Finanzkrise 2008 in der Politik dominierende Rede von der Alternativlosigkeit des Kapitalismus ist die wohl bekannteste –, sondern auch in bestimmten Identifikationen mit dem Status quo der Gesellschaft.

So sei neuerdings eine Demokratisierung des Luxus zu beobachten. Luxusgüter sind nicht mehr nur der Oberschicht vorbehalten, sondern werden durch alle Klassen goutiert: „Jeder kann heute ‚coole‘ Objekte besitzen.“ Sollte das Kleingeld für ein Kleid von Prada nicht ausreichen, könne man sich immer noch die Kopie einer Prada-Tasche kaufen. Luxus sei daher ein Universalierer im negativen Sinne.

Denn auch wenn der Glaube an die Wahlmöglichkeit heute als großes Befriedungsinstrument diene, könne er eben nicht verhindern, dass er Symptome von Gewalt provoziere. Die Aufstände in London seien ein gutes Beispiel. Als es zu Plünderungen von Geschäften kam, habe man immer wieder Bilder von lächelnden Menschen gesehen, Frauen, die stolz ihre gestohlenen Schuhe hochhielten und sich dabei ganz als zufriedene Konsumenten zu erkennen gaben.

Mitunter seien in London unfreiwillig komische Szenen zu beobachten gewesen. Wie die zwei jungen Frauen in der U-Bahn, die unterwegs waren, um Kosmetik zu klauen: Auf den Vorschlag der einen „Gehen wir zu Boots“ (das britische Äquivalent zu Rossmann), habe die andere entgegnet: „Nein, nehmen wir den Body Shop“. Protest und Markenidentifikation gehen hier Hand in Hand.

Alternativen zur Identifikation mit den Bedingungen des Marktes sieht Salecl am ehesten in der Kunst. Die Einsicht, dass Kunst es einem ermögliche, die Dinge noch einmal ganz anders zu sehen, mag an sich nicht neu sein. Dafür setzt Salecl, die zur slowenischen Lacan-Schule zählt, ihre Beispiele in ähnlich unterhaltsamer Weise ein wie ihr Kollege und früherer Ehemann, der Philosoph Slavoj Zizek.

Salecl berichtete etwa von einer großen Lego-Figur, die im vergangenen Jahr an einen Strand in Florida gespült wurde, was für aufgeregte Debatten sorgte. In den Medien wurde der Vorgang unter anderem als Akt der Gewalt bezeichnet.

Tatsächliche Gewalt musste jedoch nur der Plastikmann erleiden, der von der Polizei für einige Monate in einem unbekannten Gefängnis, einem „Guantánamo für Lego-Menschen“, eingesperrt war. Am Ende entpuppte sich die Sache als Aktion eines niederländischen Künstlers namens Ego Leonard.

TIM CASPAR BOEHME