berliner szenen Aus der Welt fallen

Wo man geht und steht

Es war noch nicht spät, als sie nach Hause kam. Wie immer schaute sie, bevor sie die Haustür aufschloss, kurz die Fassade hoch. Sie wollte sehen, bei wem noch Licht brannte. Es tröstete sie, wenn noch viele auf waren, aber nur im ersten Stock links waren zwei Fenster erleuchtet: bei der jungen Türkin, die sich gerade als Grafikerin selbstständig gemacht hatte und vielleicht ein bisschen einsam war.

Im Treppenhaus lag zwischen dem zweiten und dritten Stock auf dem nackten Boden ein Mann und schlief. Er lag auf der Seite, den Kopf in der rechten Armbeuge, das verwitterte Gesicht dem Betrachter zugewandt. Er stank. Offenbar hatte er sich im großen Stil in die Hose gemacht. Sie überlegte einen Moment, dann hielt sie einfach die Luft an und ging vorbei. Ihr Haus war das mit Abstand hässlichste in der ganzen Straße, die Hemmschwelle, sich für einen trockenen Unterschlupf Zutritt zu verschaffen, deshalb nicht hoch. Es war auch nicht das erste Mal, dass sich hier ein aus der Welt Gefallener zur Nacht bettete.

Trotzdem fand sie es seltsam, dass zwei Tage zuvor an der ehrwürdigen Staatsoper etwas Ähnliches vorgefallen war. Die Generalprobe von „L’italiana in Algeri“ von Gioacchino Rossini war gerade vorüber, es war noch lange nicht dunkel. Auf dem Weg zu ihrem Fahrrad wurde sie Zeugin, wie sich ein auf den ersten Blick normal aussehender Mann an der Seite der Oper zum Bebelplatz hin in einen Vorsprung kauerte, dort einen Haufen hinsetzte, rasch die Hose hochzog und verschwand. Außer ihr beobachteten ein paar Touristen das Geschehen. Sie schüttelten die Köpfe, dieses Bild von Berlin würde ihnen ewig bleiben. In der Hauptstadt verrichtet man seine Notdurft, wo man geht und steht.

KATRIN SCHINGS