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Archiv-Artikel

Wer ist die Sozialste im ganzen Land?

Regierung und Opposition überbieten sich mit Bekenntnissen zum Sozialstaat. Kürzen will plötzlich niemand mehr

BERLIN taz ■ Zwischen der rot-grünen Bundesregierung und der Union entwickelt sich ein Wettstreit, wem am ehesten das Adjektiv „sozial“ zusteht. Die Union wolle im Falle ihrer Regierungsübernahme keine Sozialkürzungen vornehmen, sagte CDU-Generalsekretär Volker Kauder gestern. Beim SPD-Kongress „Soziale Marktwirtschaft“ hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder der Union am Montagabend vorgeworfen, der sozialen Marktwirtschaft den Boden entziehen zu wollen.

„Wir brauchen nicht über Kürzungen zu reden, aber es wird nichts Neues zum Verteilen geben“, sagte Kauder. Auch die Union werde sich darum bemühen, die soziale Sicherung aufrechtzuerhalten. Gleichwohl sollten die von Rot-Grün eingeführten Ich-AGs und andere Programme überprüft werden. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hatte zuvor angekündigt, die sozialen Leistungsgesetze mal ordentlich zu durchforsten.

Beim Kongress „Soziale Marktwirtschaft“ hatten Bundeskanzler Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering diese Gesellschaftsform für die Sozialdemokratie reklamiert. An der Frage, ob man die soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln oder schwächen wolle, entscheide sich die Bundestagswahl am 18. September, lautet die Losung der SPD-Spitze. Die Vertreter der Parteilinken gaben sich mit dem eingeschlagenen Weg gestern einigermaßen zufrieden. „Das war ein guter Aufschlag für das Wahlprogramm“, sagte das Vorstandsmitglied Niels Annen der taz. Schröder habe Müntefering in dessen Kritik am Verhalten internationaler Kapitalinvestoren unterstützt. SPD-Fraktionsvize Michael Müller zeigte sich gestern erfreut, dass eine „15 Jahre unterdrückte Debatte nun endlich begonnen hat“. Risikoreiche Hedgefonds seien ein Symbol für die „spekulative Ökonomie“, die man irgendwie in den Griff bekommen müsse.

Das Wie freilich ist bei der SPD eine Frage, die noch der Antwort harrt. Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) und Autor Harald Schumann („Die Globalisierungsfalle“) kamen in ihrer Diskussion sehr schnell an einen Punkt, an dem es nicht mehr weiterging. Wenn der internationale Kapitalmarkt 25 Prozent Rendite verlange, sei das für Unternehmen in jeder Hinsicht schädlich, darüber war man sich einig. Schumann: „Diese Renditeforderungen müssen runter – wie, das weiß ich auch nicht.“ Eichel: „Wir brauchen eine globale Regulierung, nur welche?“

Weniger eine konkrete Antwort als vielmehr einen Theorierahmen für künftige Politik bot Gesine Schwan. Die Rektorin der Universität Frankfurt (Oder) und ehemalige Präsidentschaftskandidatin riet der SPD, ein Regulierungsmodell für eine soziale Weltwirtschaft zu entwickeln. Dieses Modell nannte Schwan „Good Governance“, was so viel heißt wie „gute Steuerung“. Es bezeichnet den noch nicht sehr weit entwickelten Versuch, gesellschaftliche Prozesse im Quadrat zwischen Nationalstaat, suprastaatlichen Institutionen, transnationalen Unternehmen und Zivilgesellschaft zu regeln. Schwan: „Wir müssen den Kapitalismus neu gestalten und seine Selbstdestruktion bändigen“.

HANNES KOCH