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Archiv-Artikel

„Nicht dass ich Hunger hätte“

VERSPRECHEN Was schmeckt besser: Essen auf Rädern oder Essen, das vom Onlinelieferservice kommt? Unsere Autorin hat es ausprobiert – zusammen mit ihrer Oma. Bruch einer Gewohnheit

Mobiles Essen

■ Notwendigkeit: Was als „Essen auf Rädern“ begann, um Ältere zu unterstützen, die sich nicht selbst bekochen können, ist vom Prinzip her für viele heute genauso ein Versorgungsanker. Denn auch sie können sich nicht bekochen: Es fehlt ihnen die Zeit. Täglich erhielten im Jahr 2009 etwa 300.000 Menschen von einem der 2.500 Anbieter Essen auf Rädern. Dagegen stehen – laut Statistischem Bundesamt – über 200.000 Pizzabringdienste.

■ Zweiklassenversorgung: Bis heute haben Pizzaservice und „Essen auf Rädern“ verschiedene Zielgruppen. Da: Alte und Bedürftige. Dort: Teenager, Singles, Eltern und alle, die zum falschen Zeitpunkt Hunger bekommen.

VON EVA-LENA LÖRZER (TEXT) UND YVONNE SEIDEL (FOTOS)

Stuttgart Ost, beim Ostendplatz, das Haus meiner Oma, 89 Jahre ist sie alt. Täglich bekommt sie Essen auf Rädern. In die graue Diakonie-Box aus Styropor auf der Kommode wird es gestellt, damit es warm bleibt.

Doch jetzt lässt sie sich auf ein Experiment ein: Eine Woche werde ich ihr Essen auf Rädern essen, für sie dagegen werde ich eine Woche internationale Küche bei einem Onlinelieferservice bestellen. Mal sehen.

Tag 1

Der Diakoniefahrer war schon da, als ich eintreffe. „Das Essen ist mittlerweile sicher kalt geworden“, sagt meine Oma und deutet auf die Styroporbox, während ich meinen Mantel ablege. Sie sucht die Menükarte. „Kannst du das lesen?“ „Kalbsfrikassee mit Kaisergemüse und Petersilienkartoffeln für 8,70 Euro“ hat sie gewählt.

Es ist 13 Uhr, gewöhnlich wärmt meine Oma ihr Diakonieessen auf um diese Zeit. Ich lasse mir auf der Seite eines Lieferservice im Netz die Restaurants der Umgebung zeigen und wähle indisches Curry. Aber der Inder um die Ecke hat Mittagspause. Der Italiener, der Chinese auch. Nur das Sushirestaurant am anderen Ende der Stadt bringt von 11 bis 21.30 Uhr jederzeit Essen. Ich bestelle Maki und Nigiri für 36 Euro. Billiger geht’s nicht. Es gibt Mindestbestellpreise. Als Lieferungstermin: sofort. Aus sofort wird eine Stunde. Meine Oma rutscht nervös auf dem Stuhl: „Nicht dass ich Hunger hätte.“

Endlich klingelt’s: Sie mustert die Box, nimmt ein Tütchen Sojasauce in die Hand, befühlt es, fragt: „Und das ist Mayonnaise?“ Ihr Sehvermögen liegt nur noch bei 20 Prozent, doch was sie vom Sushi sieht, gefällt ihr: „Das sieht ja aus wie Konfekt!“ Sie lacht über die Schärfe des Wasabis, das in der Nase kitzelt, ruft immer wieder „ah!“ und „oh!“ und sagt dann: „Ich mag ja scharf! Wenn es bei mir Rindfleisch gibt, mache ich extra Meerrettich drauf. Und Ingwer kenn ich nur süß. Nur der Seetang ist im Abgang modrig.“ Im Abgang? Verwechselt sie ihn mit Wein? Sie isst, bis sie meint, sie habe viel zu viel gegessen. Den Rest packt sie vorsichtig ein und fragt: „Was gibt es denn sonst noch die Woche?“

Dann endlich teste auch ich das Essen auf Rädern. In der Styroporbox liegt eine Plastikschale. Auf der linken Seite: Petersilienkartoffeln mit Kaisergemüse, auf der rechten Seite, laut Karte: zartes Kalbsfrikassee. Das Kalb schmeckt nicht nach Kalb, das Gemüse ist weich und geschmacklos. „Was isst du nochmal?“, fragt meine Oma. „Kalbfleisch irgendwas.“ „Ach ja. Das schmeckt nach Hammel.“ Meine Großmutter, alleinerziehend, war 25 Jahre Sekretärin beim Landesverband Württembergischer Rinderzüchter e. V.

Tag 2

Ich habe die Lieferung der Diakonie verschlafen. Der „junge Mann“, wie meine Oma sagt, „war sehr früh dran.“ Sie gähnt. „Da kommt ja jeden Tag ein anderer. Immer um eine andere Zeit.“

Da meine Oma Scharfes liebt, soll’s heute Curry sein. Um 12 Uhr öffne ich die Internetseite des Essenlieferers und wähle ein Restaurant, das von 52 Menschen vier Sterne bekam. Der „Topseller“ bietet neben Indisch auch Italienisch, Amerikanisch, Afrikanisch, Deutsch und „international food“. Lammcurry für 9 Euro wähle ich. Als ich auf Bestellung drücke, wird angezeigt, dass der Mindestbestellwert bei 10 Euro liegt. Okay, Tiramisu für 3 Euro dazu. Unter dem Tiramisu gibt es noch „frisches Tiramisu“ für 4,50 Euro. Komisch. Weiter. Leider zählt Dessert beim Mindestbestellwert nicht. Auch komisch. Aber meine Oma wartet. Feste Zeiten sind wichtig im Alter. Also klicke ich eine Seite zurück und wähle „Extra Ente“ zum Curry dazu.

Währenddessen hat meine Oma das Diakonie-Menü für mich aufgewärmt: Putenbrust-Formfleisch für 8,70 Euro. Es sieht aus wie Babynahrung, schmeckt aber weit besser, als es aussieht. Die Spätzle, wie hausgemacht, auch. Nur die Möhren sind wieder zerkocht. Nach dem Essen google ich Formfleisch: „Aus Fleischteilen zusammengesetztes. …“ Ich lese nicht weiter.

Das Currygericht für meine Oma kommt und kommt nicht. Gerade will ich mit dem Lieferservice telefonieren, da klingelt es. Der Lieferer erzählt, dass er vor fünfzehn Jahren aus Ankara nach Stuttgart gekommen sei und täglich hier ausfahre. „Normalerweise Pizza.“ Er reicht einen großen weißen Pappteller durch die Tür. „Achtung, des Curry isch heiß!“

Als meine Oma ihre Portion Lammcurry sieht, ruft sie entsetzt: „Mein Gott! Das reicht ja für vier! Das krieg ich nie gegessen!“ Sie kriegt es gegessen. Aber es schmeckt ihr nicht. Zwischen den Löffeln murmelt sie: „Ach Gott, ach Gott, das große Fressen!“ oder: „Ah! Ist das scharf! Da bleibt mir ja die Luft weg!“ Und schließlich: „Das ist vielleicht etwas für einen arbeitenden Mann. Aber sicher nichts für eine alte Frau! Das war viel zu viel und viel zu scharf! Die armen Inder!“

Tag 3

Heute ist die Diakonie spät dran. Meine Oma wird unruhig, läuft im Flur auf und ab, öffnet das Fenster im Wohnzimmer, stellt sich auf die Zehen und lehnt sich mit beiden Armen auf die Fensterbank, um einen möglichst guten Blick auf die Straße zu haben. Ich studiere derweil das Menü: Insgesamt stehen 84 Essen zur Auswahl, 42 jede Woche, 6 verschiedene pro Tag. Um 11 Uhr klingelt es. Ein Junge mit Headset auf dem Kopf rennt die Treppen hinauf, sprintet in den Flur und ist auch schon wieder draußen.

Mittwoch, Mitte der Woche, zumindest beinahe. Zeit für etwas Einfaches. Der Insalata Salmone des ersten Italieners auf der Seite sieht vielversprechend aus. Und günstig. Mindestbestellwert 5,50 Euro. Ich bestelle bereits um 11 Uhr. Ich habe dazugelernt. Um Punkt 12 Uhr klingelt ein älterer Mann. Neugierig frage ich beim Bezahlen, woher er kommt. „Aus Indien.“ Ein Deutscher, der Sushi bringt, ein Türke, der Indisch liefert, ein Inder, der Italienisches liefert: internationale Küche 2.0.

Meine Oma dagegen hat wieder Möhren bestellt. Aber der Eintopf versöhnt mich ein wenig: Er ist simpel und gut. Feine Brühe, etwas Sellerie, die Möhren klein geschnitten, aber noch saftig, die Kartoffelwürfel weich und winzig. Bekömmlich eben.

Meine Oma befühlt die Verpackung ihres Insalata Salmone: ein runder Pappteller, mit Aluminiumfolie bedeckt. Vorsichtig lüftet sie die Alufolie, sticht mit einer Gabel in den Salat, fischt etwas hinaus, kostet zaghaft und fragt: „Was ist das jetzt? Mais, Gurke, Käse?“ Es ist ein bisschen wie auf einem Kindergeburtstag beim Blinde-Kuh-Spiel. Sie isst stillschweigend. Nur einmal fragt sie noch: „Was war denn das jetzt? Das war kein Salatblatt und Käse war’s auch nicht.“ Ich muss lachen. Sie hat ein riesiges Stück Lachs auf dem Löffel. „Das war Lachs.“ Sie pfeift durch die Zähne. „Super! Der war dann auch nicht billig, oder?“ Als ich ihr den Preis nenne, 6,90 Euro, schüttelt sie den Kopf und sagt: „So viel, so gut und doch so günstig!“

Tag 4

Meine Oma hat heute bei der Diakonie Hähnchenfilets bestellt. Ich finde für sie auf der Seite eines italienischen Restaurants „Rumpsteak in Pilzsauce“ . Es kann losgehen: Die zarten Hähnchenfilets, vier Stück, je zwei Daumen breit, liegen in einer dreigeteilten kleinen Plastikschale. Beilagen sind Romanesco, eine Kreuzung aus Brokkoli und wildem Blumenkohl, und Reis. Ich probiere. Langsam geht mir das Vokabular für fehlende Würze aus. Reis und Brokkoli sind weich und geschmacksneutral. Wenigstens die Hähnchenfilets schmecken zart, aber saftig.

Meiner Oma geht es umgekehrt. Während sie sich über die Pommes freut und die Rahmsauce mit Champignons für „schon recht“ hält, ist das Fleisch, wie sie sagt, „unter aller Kanone“. Zu hart, zu zäh, nichts für ältere Leute. Nach dem Essen lehnt sich meine Oma zurück und sagt kopfschüttelnd: „O nein! Man glaubt es nicht: Das einfachste Essen ist das schlechteste!“

Tag 5

Am späten Morgen bringt „der Junge“ der Diakonie das Essen. Als er die Treppe wieder herunterrennt, kommt der Lieferant des chinesischen Restaurants die Treppe hoch.

Die Ente auf dem Teller meiner Oma ist kross gebraten und ihren hastigen Bissen nach zu urteilen dennoch weich. Meine Oma isst ohne große Kommentare. Nur einmal zuckt sie zusammen. „Scharf! Aber erst auf den zweiten Biss! Das schmeckt wie zu Hause Schwarzsauer!“ Schwarzsauer, erzählt sie in einer Essenspause, war früher, zu Hause in Ostpreußen, ihr Leibgericht: eine Suppe aus Enteninnereien mit Mehlklößen und Früchten. Sie kaut so konzentriert, als sei Kauen eine Meditationsübung. Am Schluss wischt sie sich mit einem Tuch über den Mund und sagt: „Das hat vielleicht geschmeckt! Nur brennen tut es immer noch.“

„Eine aufregende Woche! Dass ich in meinem Alter noch zur Essens- kritikerin werden und kulinarisch um die Welt reisen durfte, wunderbar!“ DIE OMA

Auch ich komme auf meine Kosten: Der Koch hat den Kartoffelbrei mit Möhrenstücken vermengt. Und auch die „feine Gemüseauswahl“ ist weich, aber nicht wässrig.

Tag 6

Heute gibt es für mich zur Abwechslung „Fingermöhren“. Der Rest des Tellers ist geschmacklich schwer zu fassen. Die Stampfkartoffeln schmecken schal, die grünen Bohnen sind ungesalzen. Bin ich so starke Gewürze gewöhnt, dass mein Geschmackssinn mich trügt? Meine Oma ist davon überzeugt: „Du übertreibst! Das ist ja auch für alte Menschen gedacht, die keine Zähne mehr haben!“ Meine Frage bleibt: Haben alte Menschen, mit oder ohne Zähne, keinen so stark ausgeprägten Geschmackssinn mehr? Meine Oma doch schon.

„Das ist wie eine Pizza, nicht?“ Meine Oma klappt die Tortilla auf und begutachtet den Belag. Sie schneidet sich kleine Happen ab: „Mh, mh. Speck!“ Dann beißt sie auf eine Peperoni und schlingt sie trotz brennender Augen hinunter: „Viel zu scharf!“ Nichtsdestotrotz schmeckt ihr die Tortilla. Ihr einziger Kritikpunkt: der dicke Boden. Wie soll man den denn schneiden?“ Ich versuche ihr zu erklären, dass sie ein Fladenbrot und keine Pizza vor sich hat, doch sie schüttelt den Kopf: „Teig ist Teig.“

Tag 7

Unser letztes Essenduell: Zur Feier des Tages hat sie für mich wieder ein Essen aus der Rubrik „Feine Kost“ bestellt, der teuersten und einzig bebilderten Rubrik der Karte: „Lachsfilet in feiner Butterrahmsauce mit Brokkoli und einer Reis-Wildreis-Kombination.“ Auf der Karte des „Menüservice“ ist das Ü von Menü mit Herzen statt zwei Punkten geschrieben.

Ich dagegen will meine Oma heute selbst wählen lassen. Sie möchte aber nichts Neues probieren: „Wenn es geht, bitte nochmal Konfekt.“

Als sie die Berge von Sushi auf dem Tisch sieht, lächelt sie glücklich: „Mensch! Das sieht ja wieder toll aus! Solche Arbeit! Für nur ein Essen!“ Gerade hat sie noch über ein Völlegefühl geklagt, jetzt verschlingt sie ein Stück Nigiri nach dem nächsten. Meine Oma schafft die Familienportion. Anschließend hält sie sich den Bauch und resümiert: „Das war ja mal eine aufregende Woche! Dass ich in meinem Alter noch zur Essenkritikerin werden und kulinarisch um die Welt reisen durfte, wunderbar!“

Ich esse von meiner letzten Diakonie-Portion nur das Lachsfilet. Karotten kann ich nicht mehr sehen. Reis auch nicht. Ich habe das Gefühl, die ganze Woche das Gleiche gegessen zu haben. Gleiche Form, gleiche Farbe, gleicher Geschmack: Orange für Möhren, Grün für Brokkoli und Gelb für Kartoffeln. Ich freue mich darauf, demnächst meine Treuepunkte auf www.lieferando.de einzulösen und extrascharfes Curry zu bestellen. Und meiner Oma? Ihr geht es ähnlich. „So toll die Woche war. Aber täglich könnte ich das nicht essen. Bei der Diakonie weiß ich einfach, was ich kriege: Kleine Portionen, gut zu kauen und vor allem nicht so scharf!“