: Das verlorene Kind
KRIEG Die junge Kurdin Ebru Muhikanci zieht von Istanbul in den Nordosten der Türkei, um dort zu studieren. Drei Jahre später ist sie tot, der Staat nennt sie eine Terroristin. Wie wird eine Studentin zur PKK-Kämpferin?
■ Kurden: Die etwa 15 Millionen Kurden sind in der Türkei die größte Minderheit im Land, wurden aber bei der Republiksgründung nicht als ethnische Minderheit anerkannt und kämpfen seitdem gegen die staatliche Unterdrückung. Aufstände wurden brutal niedergeschlagen, Sprache, Musik, Literatur und die kurdische Nationalkleidung wurden verboten.
■ Konflikt: Seit 1984 führt die türkische Armee Krieg gegen die kurdische Untergrundorganisation PKK, die 1978 von Abdullah Öcalan gegründet wurde und für einen kurdischen Staat oder zumindest ein Autonomiegebiet im Südosten der Türkei kämpft. 2011 kam es zu der heftigsten Eskalation seit den 90er-Jahren – mehrere hundert Menschen wurden getötet.
■ Jugend: In kurdisch geprägten Gegenden wie der Provinz Kars im Nordosten der Türkei radikalisieren sich zusehends mehr junge Leute und kämpfen für die PKK. Der Staat kriminalisiert Jugendliche. Kürzlich enthüllte die Reporterin Özlem Agus, wie 13 bis 17 Jahre alte Teenager als angebliche PKK-Mitglieder in einem Gefängnis in Adana misshandelt wurden. Die Journalistin kam ebenfalls in Haft.
VON YASEMIN ERGIN
Manchmal fragt sich Birgül Muhikanci, ob ihre Tochter noch am Leben wäre, wenn sie nicht immer nur das Beste für sie gewollt hätte.
Muhikanci ist 41 Jahre alt, eine runde Frau, die müde aussieht. Sie trägt einen selbstgestrickten Pullover und einen langen, weiten Rock, ein Tuch hat sie lose um die Haare gebunden. Sie weint nur selten, wenn sie von ihrer Tochter spricht, weil sie sonst nicht mehr aufhören kann.
In ihrem Kopf schmerzen all die Vorwürfe, die Fragen. Hätte sie Ebru das Studium im Hunderte Kilometer entfernten Kars ausreden müssen, statt davon zu träumen, dass ihre Tochter Karriere machen würde? Die fröhliche, hilfsbereite Ebru, die ihr immer das liebste ihrer vier Kinder war. Ihre einzige Tochter, die im Jahr 2008 verschwand und die sie erst vor einigen Monaten wiedersah – als Leiche.
Muhikanci sitzt in einer kleinen Wohnung in Sahintepe, einem ärmlichen Vorort Istanbuls, in einer Gegend, in der Schafherden zwischen einfachen Häusern grasen. Bahat, das kleinste Kind, quengelt. Birgül Muhikanci nimmt ihn auf den Arm.
„Natürlich sollte eine Mutter alle ihre Kinder gleich lieb haben“, sagt sie, „aber sie war meine einzige Tochter.“
Kars klingt für die junge Studentin nach Freiheit
Zwei gerahmte Fotos hängen an der Wand. Das eine zeigt Ebru mit 17, ein junges Mädchen mit grünen Augen, das in die Kamera lacht. Auf dem anderen trägt sie Uniform und blickt ernst. Ebru Muhikanci mit 19. Zwischen den Fotos liegen zwei Jahre und gleichzeitig Welten. Nicht einmal der Name ist gleich. „Eylem Ararat“ steht unter dem zweiten Foto, der Kampfname, der ihr verliehen wurde, als sie sich der kurdischen Widerstandsbewegung PKK anschloss.
Ebru Muhikanci kam am 11. September 1989 in der südtürkischen Küstenstadt Izmir zur Welt. Am 19. Oktober 2011 ist sie in Cukurca gestorben, einem Ort nahe der türkisch-irakischen Grenze.
Eine junge Frau, ermordet vom türkischen Staat, weil sie für die Rechte ihres unterdrückten Volkes gekämpft hat – so sehen es die Eltern und die kurdische Community, die getötete Rebellen wie sie als Märtyrer feiert.
Eine kurdische Terroristin, die dem türkischen Staat den Krieg erklärte und in einem Gefecht ums Leben kam – so sieht es die Regierung, so in etwa steht es in dem knappen Autopsiebericht, den ihr Vater in die Hand gedrückt bekam, als er die Leiche im vergangenen Oktober abholen durfte, fast zwei Wochen nach ihrem Tod. Seitdem versuchen Birgül Muhikanci und ihr Mann Nurettin, kurdische Eheleute aus Kars, zu verstehen, wie das alles so kommen konnte.
Als Ebru Muhikanci sich im Sommer 2006 nach der Schule um einen Studienplatz bewirbt, gibt sie als Wunschort Kars an, ihre alte Heimat. Kars ist eine Kleinstadt im kargen Nordostanatolien, nahe der armenischen Grenze, 22 Autostunden von Istanbul entfernt. Provinziell, sittenstreng, raues Klima. Vielleicht sehnt sich Ebru Muhikanci dorthin zurück, weil sie sich an ihre Kindheit in Kars erinnert. Ihr Vater, ein kleiner, trauriger Mann, der jeden Tag drei Stunden mit Bus und Bahn fährt, um für drei Euro die Stunde in einem Einkaufszentrum zu putzen, er hat die Familie nach Istanbul geholt, als Muhikanci acht war. Istanbul, die Großstadt, deren schillernde Seiten Ebru Muhikanci verschlossen bleiben, weil für Ausflüge in die Vergnügungsviertel meist das Geld fehlt. Ihre Eltern behüten sie so streng, dass sie auch als junge Erwachsene kaum rauskommt aus der dörflichen Neubausiedlung.
Als sie die Zusage für das Wirtschaftsstudium bekommt, freut sich Ebru Muhikanci auf das Studentenleben und die Rückehr nach Kars. Der Name klingt für sie nach Freiheit, nach Heimat.
Der Vater will ihr die Rückkehr verbieten. Aber ihre Mutter setzt sich durch. Ebru soll es einmal besser haben.
Die Ebru aus Birgül Muhikancis Erinnerung ist ein kleines Mädchen. Es schreibt Gedichte. Es spielt Flöte. Es hasst Ungerechtigkeit. Einmal, da war sie zehn, schrie sie ihre Mutter an, weil die ihren kleinen Bruder Eren geohrfeigt hatte. Mit welchem Recht sie ein Kind schlage, das doch viel schwächer sei als sie selbst. Ob sie sich nicht schäme?
Birgül Muhikanci blättert schweigend in einem Fotoalbum. Ebru an ihrem 15. Geburtstag, in der Schule, bei einem Picknick. Strahlend.
Die Ebru aus Birgül Muhikancis Erinnerung ist eine Teenagerin, die sich für kurdische Autoren interessiert, für Widerstandskämpfer. Für dieses Volk, das die türkische Armee jahrzehntelang niederkämpfen wollte. Dessen Sprache in der Türkei lange verboten war. Dessen Kämpfer der PKK immer wieder dafür gesorgt haben, dass der türkische Staat ganze Provinzen zu Sperrgebieten erklärte.
Im Viertel hat eine kurdische Partei ihre Zentrale. Der Vater hält sich fern. Er fürchtet Ärger.
Seine Tochter will zu Demonstrationen und Parteiveranstaltungen. Es ist die Zeit, in der junge Leute sich fragen, wer sie sind, wo sie herkommen. Ebru Muhikanci stößt auf das Kurdische. Es zieht sie an.
Aber radikal und gewaltbereit? Nein, sagt die Mutter, all das war sie nicht. Nicht ihre Ebru.
„Sie hat sich ihre Ideen selbst angeeignet. Wir konnten ja nicht kontrollieren, was sie liest und mit wem sie sich trifft“, sagt Nurettin Muhikanci, ihr Vater, heute. Und es klingt, als müsse er sich entschuldigen.
Im Spätsommer 2006 kommt Ebru Muhikanci in Kars an. Sie entwickelt schnell ein inniges Verhältnis zu ihrer Tante Aysel, der jungen, unverheirateten Schwester ihrer Mutter, die wie sie selbst gern Bücher liest. Ebru Muhikanci bekommt ein kleines Zimmer bei ihr. Die Tante ist ihre Bezugsperson und übernimmt die Verantwortung für sie.
Aysel Usar war in einer prokurdischen Partei aktiv. Es läuft noch ein Prozess gegen sie, wegen angeblicher Verbindungen zu illegalen Organisationen. Als ihre Nichte nach Kars kommt, distanziert sie sich von der Partei, um sie von allem fernzuhalten, was sie in Schwierigkeiten bringen könnte. Sie weiß, was ihre Nichte anzieht.
In Kars stehen sich türkische und kurdische Nationalisten gegenüber. Im Jahr 2006 ist der bewaffnete Konflikt zwischen kurdischen Separatisten und türkischem Militär nach einem längeren Waffenstillstand wieder entflammt, die Stimmung ist aufgeheizt, jede politische Aktivität wird von den türkischen Sicherheitskräften geahndet. Junge Kurden, die die kurdische Sprache und Kultur fördern wollen, werden reihenweise verhaftet.
Aysel Usar, die Tante, ist heute 34, eine junge Frau, die Jeans, modischen Schmuck und ein buntes Halstuch trägt. Sie ist nach Istanbul gezogen, weil sie in Kars die Erinnerungen an Ebru nicht mehr ertragen hat. „Ich kann nicht um sie trauern, ohne gleichzeitig wütend und enttäuscht zu sein“, sagt Usar und es klingt bitter. „Ebru wusste genau, was für eine schwere Last sie mir aufbürdete, als sie ging, während ich für sie verantwortlich war.“
Ihre Nichte war 17, als sie zu ihr kam. Das erste Mal weg von zu Hause. Manchmal benahm sie sich noch wie ein kleines Mädchen. Nachts nahm sie ihre Stoffpuppe mit ins Bett.
Die Puppe, Suzan heißt sie, abgegriffen, mit unterschiedlich langen Beinen, bewahrt Aysel Usar heute noch auf. Sie fragt sich, warum ein Mädchen, das nachts mit einer Stoffpuppe kuschelte, bald darauf in den bewaffneten Kampf zog.
In den ersten Monaten geht alles gut. Ebru Muhikanci fühlt sich wohl an der Uni und findet schnell Freunde, Studenten, die sich für Mode und Popmusik interessieren.
Bald kommt der erste Bruch. Als im Januar 2007 der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink von einem jungen Nationalisten erschossen wird, gibt es auch in Kars Trauermärsche. Ebru Muhikanci trauert mit. Ihre Clique versteht das nicht. Was der Tod des Armeniers sie angehe? Sie wendet sich von ihren Freunden ab. Stattdessen geht sie immer häufiger zu einem linken Studentenverein, lernt junge Leute kennen, die so idealistisch sind wie sie. Und gerät ins Visier der Staatsschützer.
Die Polizei beobachtet den Verein. Schon ein Jahr zuvor strengte die Staatsanwaltschaft in Kars ein Verbotsverfahren an, weil es sich bei den Mitgliedern um „Sympathisanten der Terrororganisation PKK“ handle. In der Türkei reicht es manchmal, Minderheitenrechte einzufordern, um in Konflikt mit dem Gesetz zu kommen. Ebru Muhikanci ist sich der Gefahr nicht bewusst. Vielleicht ist sie ihr auch egal.
Sie ist verliebt. Esat heißt er, ein paar Semester über ihr, groß, gutaussehend, kurdisch wie sie.
Wie viele junge Kurden geht ihr Freund zur PKK
Eines der Fotoalben, die Nurgül Muhikanci seit Ebrus Verschwinden hütet, ist voll mit Bildern des jungen Paars. Ebru und Esat auf Ausflügen, in traditioneller Tracht beim kurdischen Neujahrsfest, Arm in Arm, strahlend. Ihre Eltern wussten nichts von ihm. Sie war doch viel zu jung für einen Freund, sagt die Mutter. Die Fotos finden sie nach Ebrus Verschwinden unter ihrem Bett in ihrem Zimmer in Kars.
Ihr Freund hatte sich schon im Sommer 2007 den Rebellen angeschlossen, als sie ein knappes Jahr zusammen waren. Er stammte aus einer Familie, in der viele für die kurdische Sache gestorben sind, Freunde mussten für lange Jahre ins Gefängnis. Esat wollte nicht warten, bis es auch ihn erwischt, dann lieber zur PKK und in Freiheit sterben.
Er tat, was viele junge Kurden im Osten der Türkei tun. Tausende Jugendliche, viele noch minderjährig, wurden in den vergangenen Jahren wegen „terroristischer Aktivitäten“ verhaftet. Eine Sammelbezeichnung für alles Regierungskritische – von der Teilnahme an spontanen Demonstrationen bis hin zum politischen Engagement in Vereinen.
Es ist schwer herauszufinden, ob Esat seine Freundin auf den Weg zur PKK gebracht hat. Dass sie nach seinem Verschwinden noch von ihm hörte, ist unwahrscheinlich. Die Organisation schirmt ihre Rekruten von der Außenwelt ab. Kein Kontakt.
Ebru Muhikanci kann eigentlich nicht gewusst haben, in welchem Camp im Osten der Türkei oder im Norden des Iraks ihr Freund stationiert war. Selbst wenn: Romantische Beziehungen innerhalb der PKK sind streng verboten.
Sie versteht Esat, aber sie leidet, als er weg ist. Die Tante merkt, wie Ebru sich verändert und versucht, deren Mutter zu warnen. Sie rät ihr, die Tochter nach Hause zu holen. Sie könne nicht mehr auf ihre Nichte aufpassen.
Ebru von der Uni nehmen? Kommt nicht infrage, sagt die Mutter.
Januar 2008. Die Sicherheitsbeamten müssen sie schon länger beobachtet haben. Ebru Muhikanci will etwas bei der Post abholen, Absender unbekannt. Zeitschriften sind in dem Paket, ein linkes Blatt, herausgegeben von Studenten. Als sie die Post verlässt, nehmen die Beamten sie fest.
Ebru Muhikanci landet in Untersuchungshaft, wegen Verbreitung illegaler Propaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation. Einen Tag nach ihrer Festnahme darf Aysel Usar zu ihr.
Ihre Nichte wartet im Flur des Justizgebäudes auf die Verhandlung, sie war gerade erst beim Friseur gewesen, neue Farbe, neuer Schnitt. Neben ihr bewaffnete Polizisten. Als sie ihre Tante sieht, fällt sie ihr um den Hals, die Gendarmen schieben sie auf den Stuhl zurück. „Hör auf zu weinen“, sagt Aysel Usar, „was soll dir schon passieren, du hast nichts verbrochen.“
Ihr Vater reist sofort nach Kars. Als er seine Tochter im Gefängnis sieht, muss er weinen. Sie versucht ihn aufzuheitern.
Ebru Muhikanci, 18, politisch engagierte Studentin, teilt sich eine Zelle mit drei Schwerverbrecherinnen. Eine von ihnen, verurteilt wegen Mordes an ihrem Mann, schikaniert die „kleine, kurdische Terroristin“. So erzählt es Ebru später der Tante. Auch die Wächter beschimpfen und demütigen sie. Kein Problem, sagen sie, als sie nach mehreren Tagen Haft bittet, ihre Abschlussprüfungen machen zu dürfen, legen ihr Handschellen an und führen sie Richtung Universität. Sie fleht, weint, bettelt. So wolle sie nicht an der Uni gesehen werden. Die Polizisten zerren sie in den Hörsaal und präsentieren dem Professor die Studentin, die zur „Terroristin“ geworden sei.
Sie bleibt 45 Tage in Haft, danach wird sie freigelassen, der Prozess gegen sie läuft weiter. Verglichen mit dem Schicksal vieler anderer junger Kurden, die häufig bis zu einem Jahr oder länger ohne Prozess festgehalten und während der Untersuchungshaft bisweilen schwer misshandelt werden, hat Ebru Muhikanci noch Glück. Internationale Organisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International berichten immer wieder von solchen Fällen. Aber auch Ebru Muhikanci wird die Haft nicht vergessen.
Sie fliegt nach Istanbul, ist still wie noch nie. Auf ihre Eltern wirkt sie depressiv. An die Uni zurückzugehen, scheint ihr sinnlos. „Ich bin müde, ich bin erschöpft, ich will nicht mehr lernen“, sagt sie der Mutter.
Die redet ihr gut zu. Sie will das doch jetzt nicht alles aufgeben, oder?
Zwei Wochen später geht Ebru zurück nach Kars, es scheint, als hätte sie ihre Krise überwunden.
Auf ihrem Sofa zerknüllt Birgül Muhikanci ein Taschentuch und schüttelt langsam den Kopf, als wolle sie die Schuldgefühle und Zweifel abschütteln.
„Ich konnte nicht ahnen, wie weit Ebru sich schon von dem System entfernt hatte, wie weit weg der Gedanke an ein normales Leben für sie gerückt war“, murmelt sie.
Nach der Haft schikanieren manche Professoren sie
An der Uni kommt Ebru Muhikanci jetzt nicht mehr zurecht. Sie weiß nicht, wer zu ihr hält. Manche Professoren und Studenten schikanieren sie, von den meisten wird sie ignoriert. Auch mit der Tante spricht sie immer weniger.
Der 24. Juni 2008 ist ein Dienstag. Morgens erzählt Ebru Muhikanci ihrer Tante, dass sie Prüfungen habe und ihr Handy deshalb aus sein werde. Als sie abends nicht nach Hause kommt, telefoniert ihre Tante Freunde und Kommilitonen ab in der Hoffnung, Ebru sei irgendwo versackt. Aber sie ahnt etwas anderes.
Als die Eltern zwei Tage nach Ebrus Verschwinden nach Kars kommen und anfangen, nach ihr zu suchen, stellt sich heraus, dass Ebru ihre Tante schon seit Monaten belogen hat, dass sie seit Wochen nicht mehr an der Uni war. Zwei Tage später kommen Ebrus Abschiedsbriefe an, abgestempelt in Kars. Einer an die Eltern. Einer an die Tante.
Birgül Muhikanci hat den Brief schon so oft hervorgeholt, dass er ganz abgegriffen ist. Sie bewahrt ihn in Klarsichtfolie auf. Ein dicht beschriebenes Blatt, links hat Ebru mit dem Kugelschreiber einen Rand aus kleinen Herzen gemalt.
Gerne hätte sie ihren Eltern Kummer erspart, schreibt sie, aber nach allem, was dieses Land ihr und ihrem Volk angetan habe, wolle sie ihr Leben dem Kampf für eine bessere Zukunft widmen. „Wer weiß, vielleicht seid ihr ja auch ein bisschen stolz auf mich. Vielleicht gibt es irgendwann Frieden in diesem Land, dann kann ich zurückkommen. Bis dahin umarme ich euch in der Hoffnung auf eine Welt voller Brüderlichkeit. Passt auf euch auf, eure Ebru.“ Es ist ihre letzte Nachricht.
Ein paar Mal sieht Birgül Muhikanci ihre Tochter noch im Fernsehen, auf dem verbotenen PKK-Propagandasender Roj TV, den die Eltern nach Ebrus Verschwinden oft einschalten, weil dort regelmäßig Aufnahmen aus den geheimen Trainingscamps laufen. Ebru in Uniform, zwischen Kameraden, sie lacht. Birgül Muhikanci schreit vor Glück und umarmt den Fernseher.
Am Morgen des 19. Oktober 2011 greifen in Cukurca, einer Stadt nahe der türkisch-irakischen Grenze, kurdische Rebellen einen türkischen Militärposten an, 24 Soldaten sterben, 18 werden verletzt. Die Medien berichten tagelang über die neue Eskalation und die Opfer auf türkischer Seite.
Am 27. Oktober 2011 sitzt Birgül Muhikanci vor dem Fernseher. Auf Roj TV läuft ein Bericht über 24 noch unidentifizierte Leichen von PKK-Kämpfern, die am 19. Oktober in Cukurca ums Leben kamen und in der Gerichtsmedizin von Malatya gelandet sind, 12 davon weiblich.
Birgül Muhikanci stellt den Fernseher aus und legt sich ins Bett. Sie will nicht hören, wie Roj TV die Namen der Toten verliest.
Einen Tag später rufen Mitarbeiter von Roj TV an und erzählen, was Birgül Muhikanci geahnt hat.
Wenig später melden sich Vertreter des kurdischen Menschenrechtsvereins IHD aus Malatya und bestätigen die Nachricht vom Tod ihrer Tochter. Kurdische Politiker kündigen sich zum Kondolenzbesuch an. Birgül Muhikanci fühlt sich taub und gelähmt, aber sie steigt aus dem Bett und empfängt die Gäste.
Einen Tag später reisen Birgül und Nurettin Muhikanci nach Malatya, um Ebru zu identifizieren. Nur der Vater wird zu ihr vorgelassen. Neben 23 Leichen anderer kurdischer Rebellen liegt sie in der Gerichtsmedizin aufgebahrt.
„Ich habe mein Kind kaum wiedererkannt“, sagt er, „sie war ganz schwarz und verbrannt. Es hieß, sie sei im Gefecht gestorben, aber sie hatte keine Schusswunden am Körper, nur Verbrennungen.“ Die Eltern glauben an einen Giftgasangriff.
Solche Vorwürfe werden immer wieder laut: Die türkische Armee setze in ihrem Kampf gegen die kurdischen Rebellen chemische Waffen ein. Immer wieder tauchen Bilder von verbrannten und verätzten Leichen auf. Die Türkei behindert Untersuchungen, die PKK wiederum bauscht die schauerlichen Berichte für ihre Propagandazwecke auf.
Auch Ebru Muhikanci ist mit ihrem Tod in diesen Propagandakampf hineingerissen worden.
Es ist, als wollten Birgül und Nurettin Muhikanci weiter an die Unschuld ihrer Tochter glauben. Als könne diese Giftgasthese ihnen dabei helfen. Vielleicht ist die Vorstellung zu schwer erträglich, dass auch Ebru getötet hat. Dass es tatsächlich ein Gefecht gewesen ist.
Ebru Muhikancis Leiche ist fast zwei Wochen alt, übersät von Schwellungen und dunklen Verfärbungen, als der Vater sie zu Gesicht bekommt. Im Internet kursieren Videos und Bilder der anderen Leichen. Doch die sichtbaren Verfärbungen, sagen unabhängige Experten von Human Rights Wach, seien – soweit man das auf den Bildern erkennen könne – nicht typisch für Giftgasopfer, sondern eher Verwesungsspuren.
Die Eltern wollen trotzdem nicht aufgeben. Sie wollen, dass die Todesumstände aufgeklärt und die Verantwortlichen bestraft werden. Das Letzte, was sie für ihre Tochter tun können.
Gerechtigkeit, sagt Birgül Muhikanci, keine Rache. Nicht noch mehr Mütter, die um ihre Kinder trauern müssen.
Der älteste ihrer drei Söhne ist 21 und muss bald zur Armee. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass er auch kämpfen muss.
In demselben Krieg, in dem seine Schwester starb.
Nur auf der anderen Seite.
■ Yasemin Ergin, 34, ist freie Journalistin in Hamburg. Ihre Familie stammt aus der Türkei