: Heilige Madonna!
OHRWURM Mit „Ai Si Eu Te Pego“ hat der brasilianische Sänger Michel Teló den Hit des Jahres gelandet. Das verdankt er dem Internet – und dem Fußball
VON ZONYA DENGI
Es ist einer dieser Hypes, die sich nur schwer erklären lassen. Monatelang lief „Nossa Nossa“ auf allen Kanälen – so lange, bis irgendwann jeder, ob auf Dorffesten, in Kindergärten oder Seniorenheimen, mitträllern konnte. Der schlichte Refrain bleibt, so klebrig wie Kaugummi, auch dann im Ohr haften, wenn man den portugiesischen Text nicht versteht. Das tun die meisten hierzulande nicht. Aber das ist egal.
Fußballprofis ist es zu verdanken, dass es so weit kommen konnte. Brasiliens 20-jähriger Nachwuchsstar Neymar, der für den Verein Santos in São Paulo spielt, soll der Erste gewesen sein, der in seiner Umkleidekabine dazu ein Tänzchen aufführte. Weltberühmt wurde der Song aber erst, als die beiden Superstars von Real Madrid, Cristiano Ronaldo und sein brasilianischer Teamkollege Marcelo, damit auf dem Rasen ein gerade erzieltes Tor feierten. Diese Szene, mit der dazugehörigen Musik unterlegt, wurde auf YouTube über 300 Millionen Mal angeklickt.
Seither gab es kein Halten mehr: Andere Spieler in anderen Fußballligen kopierten den Tanz, so etwa Marco Reus beim Sieg von Mönchengladbach über Bremen, und der Song schoss in 15 Ländern an die Spitze der Charts, von Osteuropa bis Lateinamerika. „Nossa Nossa“ wurde in diverse Sprachen übersetzt, und der US-Rapper Pitbull ließ einen Remix anfertigen, mit dem jetzt der amerikanischen Markt aufgerollt werden soll.
Eine englische Version hatte Michel Teló zuvor höchstselbst eingesungen. Das Video zu „If I catch you“, mit Hunderten von Mädchen im Bikini in einer Bucht in Brasilien aufgenommen, ist noch eine Spur sexuell aufgeladener als das Video zum Original, das bei einem Gig in einer Diskothek vor überwiegend weiblichem Publikum eingespielt wurde. Doch es nützte nichts, die englische Version floppte: Michel Telós starker Akzent und die Übersetzung, die noch eine Spur plumper wirkt als im Original, standen wohl einem Erfolg im Wege. Dafür setzte sich das brasilianische Original aber auf ganzer Linie durch.
Ausdruck der Verzückung
„Nossa“ steht in Brasilien für die Anrufung der heiligen Maria. Michel Teló wendet diesen Ausruf der Verzückung stark ins Profane, denn sein Song handelt, wenn man so will, von spontaner erotischer Anziehung, indem er wiedergibt, was einem Typen so durch den Kopf geht, der auf einer Party eine Schönheit erblickt. Der wenig subtile Refrain lautet: „Du bringst mich um / Oh / wenn ich dich kriege / oh Gott, wenn ich dich kriege“. Dazu gibt es, wie so oft bei brasilianischen Hits, einen passenden Tanz: die Hände vor der Brust wirbeln, dann die Arme anwinkeln, die Hände zu Fäusten ballen, Ellenbogen am Körper vorbeiziehen und die Hüfte nach vorn schieben – das sind die offiziellen Bewegungen zu „Ai si eu te pego“.
In Deutschland brach Michel Teló damit alle Rekorde: Als erster Song knackte er die Grenze von 600.000 Downloads – damit ist „Nossa Nossa“ der bislang bestverkaufte Song im Internet. Neun Wochen führte er außerdem die deutschen Charts an, um nach einer kurzen Pause wieder an die Spitze zurückzukehren, und knüpfte damit an den Erfolg von „Over The Rainbow“ des verstorbenen Sängers Israel Kamakawiwo’ole aus Haiwaii an.
Dabei kann Michel Teló in seiner Heimat Brasilien schon auf eine lange Karriere zurückblicken. Bereits mit sechs Jahren machte er dort seine ersten Schritte auf einer Bühne, heute zählt der 31-Jährige zu den größten Stars des Sertanejo, einem ruralen Musikstil, dessen Ursprünge in die Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts zurückgehen. Ursprünglich wurde das Genre von Duos dominiert – oft handelte es sich dabei um Geschwister –, und die Lieder drehten sich meist um die Liebe oder die Schönheit einer Landschaft, in der Rinder grasen. Traditionell haftet dieser Country-Musik aus Brasiliens inneren Regionen der Geruch von Männerschweiß und Churrasco an, dem Rindfleisch vom Grill.
Doch der Sertanejo hat sich längst modernisiert: Die traditionelle Viola Caipira, eine zehnsaitige Folkgitarre, wurde durch Synthesizer und E-Gitarren ersetzt, die Künstler trainierten sich ihren schweren lokalen Akzent ab. In den letzten zwanzig Jahren hat Sertanejo auf diese Weise ein Massenpublikum erobert und sogar an den Universitäten Fuß gefasst und ist zum populärsten Musikstil des Landes aufgestiegen.
Michel Teló steht für diese neue Generation von Sertanejo-Sängern, die in der Lage sind, ein breites und städtisches Publikum anzusprechen. Dass er mit einem seiner Songs einmal eine so großes Breitenwirkung erzielen würde, hätte er sich aber kaum träumen lassen, auch seine Plattenfirma ist vom weltweiten Erfolg völlig überwältigt. Denn die Liveversion eines Akkordeon-Schlagers, der in einem volkstümlichen Genre Südamerikas wurzelt – wenn es einen Preis für den unwahrscheinlichsten Welthit geben würde, Michel Teló hätte ihn verdient.
Naserümpfen in Rio
Einige Beobachter wollen im Erfolg von „Nossa Nossa“ jetzt ein Symbol für Brasiliens Aufstieg vom krisengeplagten Schwellenland in den Kreis der entwickelten Industrienationen erkennen. Manche Brasilianer dagegen rümpfen die Nase darüber, dass ausgerechnet ein so vulgärer Gassenhauer nationalen Klassikern wie dem „Girl From Ipanema“ nun den Rang abläuft.
Die Ironie der Geschichte ist, dass Michel Teló die Einnahmen seines Megaerfolgs vorerst gar nicht genießen kann. Denn der Song stammt ursprünglich von seiner brasilianischen Kollegin Sharon Acioly, die ihn vor ein paar Jahren bei einem gemeinsamen Ausflug mit ihren Background-Sängerinnen nach Disneyland komponiert haben haben soll. Mit drei von ihnen konnte sich Acioly, die sich zunächst allein als Komponistin hatte eintragen lassen, außergerichtlich einigen. Drei weitere aber haben sie und ihren Musikverlag nun verklagt. Bis eine Entscheidung fällt, hat ein brasilianisches Gericht alle Einnahmen aus dem Song eingefroren.
Die Fans von „Nossa Nossa“ muss das aber nicht stören. Spätestens bei der Fußball-EM in Polen und der Ukraine im Sommer 2012 wird der Song wieder allerorten zu hören sein. Garantiert.